Auf dem Weg in die sprachlose Gesellschaft
Die Schweizer geben für "Medien" jährlich 10,3 Milliarden Franken aus. Mehr als zwei Drittel entfallen auf Fernsehen, Computer und Unterhaltungselektronik. Und 736 Millionen Franken für Bücher; das sind ungefähr 100 Franken auf jeden Einwohner. Viel ist das nicht.
Die Statistik, die bekanntlich eine hochstaplerische Form der Lüge ist, erlaubt dennoch die nüchterne Feststellung, dass wir auf dem Weg in eine sprachlose Gesellschaft sind.
Seit jeher hat sich eine qualifizierte Minderheit der merkwürdigen, fast meditativen Tätigkeit hingegeben, aus Buchstabenreihen eine Vorstellung im Kopf zu entwickeln. Das Lesen von Literatur ist Arbeit am Unterbewusstsein, aber es gilt als unattraktive Sache. Fussball oder Disco sind geiler.
Wenn ich an das Johlen in den Fussballstadien denke oder das Gestammel der Kinder, die mittags um zwölf Uhr am Barfüsserplatz in das Tram 3 steigen, anhöre, bin ich bestürzt und finde meinen Verdacht bestätigt. Auch das Handy liefert keinen Beweis, dass wir besonders rede- und sprachgewandt sind. Was wir uns mitteilen, ist meistens gleich null und vollkommen überflüssig. Je mehr wir telefonieren, desto kompliziertes wird alles (oder deswegen). Was das SMS betrifft, verlangt es eine Codierung der Sprache, die keinerlei Argumentation zulässt. Mehr als ein Kult ist es nicht.
Parallel dazu nehmen die sprachlosen Künste zu: Zum Beispiel Ballett und Tanz-Performances, vor allem jedoch die Musik. In der babylonischen Sprachverwirrung der multikulturellen Gesellschaft ist Musik heute die globale Kunstgattung. Aber aufgepasst: Was Musik an der Musik sein soll, ist nicht klar. Hauptsache, dass sie den Raum besetzt und die Zuhörer wie in ein Kokon einwickelt, in den Boutiquen, an den Open-Air-Festivals, auf Schritt und Tritt.
Der Verlust der Sprache versetzt die Menschen in die bedauerliche Situation, in der sie es nur mit den hautnahen Phänomenen der Welt und den Ereignissen des Augenblicks zu tun haben. Diese Unmittelbarkeit ist wie der Aufenthalt im Urwald oder in den arktischen Eiswüsten. Egal, in welche Richtung der Blick geht, überall bietet sich das gleiche Bild. Weit und breit lässt sich nichts unterscheiden.
Ohne Sprache ist der Mensch kaum in der Lage, die Verhältnisse, die ihn betreffen und bedrohen, kritisch zu analysieren und sich gegen sie zu wehren. Ein Felsbrocken, der auf die Strasse stürzt, ist je nachdem eine Tragödie oder Katastrophe, aber was ist mit der Steuerpolitik von Bundesrat Merz?
Zu guter Letzt bleibt nur das Ressentiment als Reaktion. Die nonverbale Kommunikation findet in Krawallen und Prügeleien ihren schlagendsten Ausdruck.
Alle Erkenntnis, alles Wissen ist vermittelt, das heisst übertragen, organisiert, hergestellt. Zu diesem Zweck sind Sprache und Schrift einzigartige Mittel, die wir jedoch im Begriff sind aufzugeben.
Bis neue, nachhaltige Kulturtechniken entstanden sind, könnte es zu spät und die "schlimmst-mögliche Wendung" der Entwicklung, von der Friedrich Dürrenmatt sprach, eingetreten sein: Wir verlieren unser Gedächtnis.
21. August 2006