Hohn oder Heuchelei
Wenn ich höre, was die Redeführer über Freiheit, Demokratie, Fortschritt, Wohlstand und so weiter verlautbaren, muss ich mir immer an den Kopf greifen, um sicher zu sein, dass ich noch einen habe.
Ich bin genug in der Welt herumgekommen, um zu wissen, dass diese Rhetoriken in Anbetracht der real existierenden Verhältnisse auf der Welt entweder Hohn oder Heuchelei sind. Immer mehr Menschen leben in grösster Misere. In Brasilien verfügen einzelne Landbesitzer über sog. Privatarmeen, mit denen die Landarbeiter zur Räson gebracht werden, die sich wehren.
Der Genmais-Kolonialismus macht die monopole Agro-Industrie immer reicher, stürzt die Bauern, die das Saatgut kaufen, ins Verderben und gefährdet die Konsumenten, die die Produkte ("Frankenstein-Food") kaufen. Sehr empfehlenswert zu diesem Thema ist das Buch "Trojanische Saaten" von Jeffrey M. Smith, der die Komplizenschaft von Industrie und Politik aufzeigt. Da gehen einem die Augen auf.
In Moskau sind die NGOs (Non Governmental Organisations) gesetzlich verboten worden, aber die neue Nomenklatura führt ein feines Leben.
Von der deutschen Commerzbank zirkuliert zur Zeit folgender Fernseh-Spot: Während die Rohstoffpreise steigen, suchen wir nach Wegen, wie Sie davon profitieren können. Hohn oder Heuchelei?
Ein Teil der Menschheit mästet sich auf Kosten des anderen, setzt mit ein paar Handy-Anrufen gesellschaftliche Verhältnisse durch, die auf die Börsenerwartungen Rücksicht nehmen, und lässt sich von gut honorierten sog. Kommunikationsberatern in den höchsten Tönen für seine Taten loben.
Diese Entwicklung betrifft längst nicht mehr nur das Verhältnis von Erster und Dritter beziehungsweise Vierter Welt. Die Front rückt immer näher. Die Sweat Shops - Fabrikations-Räumlichkeiten, in denen zu miserablem Bedingungen Markenartikel hergestellt werden - liegen nicht mehr auf den Philippinen, man trifft sie schon im zweiten Arrondissement in Paris an.
Die Regierungen sind weniger am Wohlergehen der Menschen interessiert und mehr an den Kapitalbesitzern, was sie mit Wirtschaftsinteressen erklären. In Realsprache ist der sog. wirtschaftliche Aufschwung zu einem Synonym geworden, dass sich die soziale Schere immer weiter öffnet. Hohn oder Heuchelei?
Die Bus-Chauffeure in Basel erhalten angeblich zuviel Lohn, und der Abendverkauf ist hinter den Erwartungen zurückgeblieben. In Deutschland wird jetzt diskutiert, die Abend- und Nachtzuschläge für das Verkaufspersonal zu streichen. Auf diese Weise muss das Personal für die Fehleinschätzung der Unternehmer den Kopf hinhalten und durch Lohnverzicht die Einbussen bei den Einnahmen kompensieren.
Freiheit, Demokratie, Wohlstand, Fortschritt etc. sind schöne Worte, aber sie bedeuten nicht viel. Investoren und die Finanzmärkte sagen, wo es lang geht.
Niemand soll sich wundern, wenn die sozialen Spannungen auf der Welt zunehmen. In den Pariser Vorstädten brodelt es immer noch, in Neapel herrscht totales Chaos. Radau ist kein Rezept, aber wenn man die Verhältnisse kennt, ist es nicht erstaunlich, was dort geschieht.
Die Polizei kann die sog. Ruhe und Ordnung nur eine Weile aufrechterhalten. Dann kippen die Verhältnisse. Der Lauf der Dinge wird kaum unbeschränkt weitergehen bis bisher.
27. November 2006