Die Zukunft fängt heute an
Während die Ereignisse unmittelbar ihren Lauf nehmen, lassen sie sich nur schwer beurteilen. Das ist erst später, im Rückblick, möglich. Nun liegt aber die Schwierigkeit darin, dass heute schon in die Wege geleitet wird, zum Beispiel in Forschungslaboratorien oder von alerten Jung-Erfindern, was in fünf, zehn, zwanzig Jahren Realität sein wird. Und dass es, wenn die Ereignisse dann eingetreten sind und beurteilt werden können, für eine Korrektur schon zu spät sein wird. Die normative Kraft des Faktischen hat bereits irreversible Tatsachen geschaffen.
Damit will ich sagen: Wir müssten in der Lage sein, unsere Handlungen und ihre Folgen zu überdenken, aber es fehlt uns die Übersicht dazu. Trotzdem bereiten wir heute schon vor, was in einer absehbaren Zukunft zu unserem Heil oder unserer Verdammnis geraten wird.
Atomenergie, Gentechnik, Künstliche Intelligenz und Nanotechnologie haben innerhalb von 20, 30 Jahren unser Leben verändert. Tiefgreifender, als uns bewusst ist - auch dann, wenn jede Entwicklung ebenso viele erfreuliche wie bedrohliche Seiten aufweist. Umso wichtiger ist daher jede Art von Reflexion, Nachdenklichkeit und Zurückhaltung.
Denn wer könnte absolut in Abrede stellen, dass wir eine Entwicklung eingeleitet haben, die unvermeidlich zur "Industrialisierung des Lebens" (Amory Lovins) führt? Ein paar Menschen werden sich in den Besitz von Technologien hieven, mit denen sie den Rest der Menschheit unterjochen können. Wir erleben heute schon einen Kollaps von Werten und Begriffen. Im Namen des realen und inszenierten Terrors werden demokratische Errungenschaften revidiert und annulliert. Die Holzräuber am Amazonas sind im Begriff, die indigenen Völker auszurotten. Der weltweite Menschenhandel ist längst eine, wenn auch mit Bedauern hingenommene, Tatsache.
Die schlimmste denkbare Aussicht: Dass der Mensch ein zum Verschwinden verurteiltes Wesen ist.
Der amerikanische Science-Fiction Autor Vernor Vinge hat schon 1993 von einer "Singularität" gesprochen und gemeint, dass wir innerhalb von 30 Jahren über technische Möglichkeiten verfügen werden, die die menschliche Inelligenz weit übersteigen. "Unmittelbar danach wird die Ära des Menschen verschwinden." Es war für Vinge klar, dass wir heute an einem vergleichbaren Wendepunkt stehen wie zu Beginn des biologischen Lebens vor drei bis vier Milliarden Jahren. Die Künstliche Intelligenz kann das Kommando übernehmen, weil die Evolution nicht mehr auf die Biosphäre beschränkt ist. Vinge ist für seinen Pessimismus massiv kritisiert worden.
Im Jahr 2000 hat Bill Joy sein Manifest "Why the future doesn't need us" veröffentlicht. Auch er musste sich viele Einwände und Vorwürfe anhören.
Das Verschwinden des Menschen ist inzwischen zu einem beliebten Feuilleton-Stoff geworden. Wenn es aber darauf ankommt, würde ich mich am Ende eher den Techno-Pessimisten anschliessen (auf deren Seite sich auch ein so eminenter Wissenschafter wie der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss gestellt hat) als den blindgläubigen Techno-Optimisten Glauben schenken.
Auch oder gerade deshalb, weil die Lust am Untergang und an Horror-Szenarien etwas Erschreckendes, aber zugleich auch Aufregendes und Prickelndes hat.
4. September 2006
"Die Phase der naiven Unwissens ist vorbei"
Ein interessanter Beitrag von Aurel Schmidt. Mir stellt sich nach dem Lesen unter vielen anderen auch diese Frage: Wer treibt denn eigentlich die "alerten" Jungtäter an? Ich glaube nicht, dass es allein Forscherdrang oder Neugier ist. Inzwischen braucht es für alle Forschungszweige, die etwas mit dem technologischen Weiterschreiten zu tun haben, viel Geld. Die Schaffung der menschliche Masse übersteigenden Intelligenz beruht nicht auf Zufälligkeiten oder dem "Hirn" eines individuellen Genies, sondern vor allem auf additiver Tätigkeit von vielen, inklusive Computern.
Ich denke, man stösst bei der Frage nach den Auftraggebern in der Folge immer wieder auf die Mitglieder jener globalgesellschaftlichen Ebene, welche den globalen wie den lokalen Geldlauf organisiert und zielgerichtet fliessen lässt: Die Ebene der weltweit operierenden Bankmanager, also der Ackermanns, der Ospels, die Ebene der sogenannten "Investoren", was dann immer wieder ebenso die Ackermanns und die Ospels sind, die Ebene der Aktionäre, deren Gewinn inzwischen einzige Richtschnur weltweit ausgedehnter unternehmerischer Zielsetzung, Tätigkeit - und damit auch der Forschung - ist.
Unter dieser sich hierarchisch verstehenden Elite-Ebene, deren Mitglieder sich durch nichts als durch Geldbesitz respektive durch die Fähigkeit, mit ihren Geldoperationen unter anderem den Tod, die Unterentwicklung, die Bildungslosigkeit ganzer Kontinente oder auch Kriege um Rohstoffe (ich denke da zum Beispiel an die furchtbaren Warlords überall in Afrika) zu befördern, auszuweisen haben, herrscht vor allem eines: Blinder Gehorsam. Wo blinder Gehorsam herrscht, verschwindet die Fähigkeit zu einem Denken in weitergefassten Zusammenhängen.
Beispiel: Durch das Abholzen der Amazonaswälder werden indigene Völker ausgerottet, das heisst: Private Unternehmen, von Banken mit globalen Ansprüchen sowohl vor- als auch mitfinanziert, betreiben Völkermord. Zugleich betreiben sie auch Klimaveränderung. Und inzwischen wissen alle Beteiligten, was sie tun. Die Phase der naiven Unwissens ist vorbei. Die gehorsamen Vollzieherinnen und Vollzieher tun, was ihnen befohlen wird.
Alois-Karl Hürlimann, Basel