Chinesisches und westliches Denken
Der französische Sinologe François Jullien unternimmt in seinen Büchern den Versuch, das chinesische Denken im Westen bekannt zu machen und zu verbreiten. Unser Denken ist von der griechischen Philosophie geprägt und beruht auf Begriffen und Ideen, die in China nicht anzutreffen sind. Was können die Unterschiede erhellen? Jede Wissensvermehrung ist immer ein Gewinn. Darüber hinaus können wir uns die Frage stellen, ob wir mit unserer Vorgehensweise immer so erfolgreich sind, wie wir es uns vorstellen.
Die Logik des Ablaufs ist von entscheidender Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, zu handeln, sondern etwas geschehen lassen. Das heisst: Durch Nichthandeln zu handeln. Strategie ist alles. Wie kann mit geringstem Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt werden?
In seinem Buch "Über die Wirksamkeit" schreibt Jullien: Die Schlacht beginnt, wenn der Sieg leicht ist. Ich darf mich nicht in die Schlacht stürzen, sondern muss erreichen, dass der Gegner durch sein eigenes Verhalten eine Niederlage erleidet. "Krieg" ist hier nur der Begriff für eine Verhaltenslehre, die jeden Tag anwendbar ist. "Über die Wirksamkeit" ist ein Lehrbuch über die Anwendung des richtigen Weges (Tao) und des richtigen Vorgehens, also der richtigen Methode.
Während das westliche Denken von Ursache und Wirkung beziehungsweise Zweck und Mittel ausgeht, beruft sich das chinesische Denken auf das Potenzial, das zur Entfaltung gebracht wird. Das ist nicht auf Anhieb zu verstehen, aber es ergibt sich aus dem Fortgang der Lektüre.
Der Begriff kommt auch in Julliens Buch "Sein Leben nähren. Abseits vom Glück" vor und meint dort, auf "die Realität der Situation" einzutreten. Auch das ergibt sich aus dem Kontext. Nicht etwas wollen, sondern etwas zur Wirksamkeit bringen, das ist es, worauf es ankommt.
Wer etwas anstrebt (ein Ziel verfolgt), blockiert sich selbst, während sich von allen Hemmnissen befreit, wer den Dingen ihren Lauf lässt. Das ist etwas, das wir nur widerstrebend wahr haben wollen. Wir wollen immer etwas erreichen, etwas durchsetzen, für etwas kämpfen. Darum kommt es meistens verkehrt heraus. Statt Kausalität schlägt das chinesische Denken dafür andere Modelle vor: Zum Beispiel Einfluss, Prozesshaftigkeit, Transformation. In Übereinstimmung mit dem Kosmos sein. Jullien zieht den Vergleich mit einem Blasebalg (Tao Te King, V).
Das Leben besteht in seinem Dahinfliessen. Es loslassen heisst, es zum Fliessen zu bringen, es zu entfalten. Man kann jetzt vielleicht auch verstehen, dass es nicht auf das eigene Leben ankommt, auch nicht auf das persönliche Glück. Es gibt eine grössere Ordnung hinter den Erscheinungen. Aus diesem Grund sprechen die (alten) Chinesen auch nicht von Ewigkeit, sondern von langem Leben.
Gern verwendet Jullien den Begriff der Immanenz. Alles, was ist, ist in sich selbst, nicht ausserhalb davon. Er zitiert Zhuangzi, der von der "Transparenz des Morgenlichts" gesprochen hat. Damit wird keine mystische Erfahrung beschrieben, aber eine poetische Aussage gemacht, der es vielleicht besser gelingt, zur Essenz vorzudringen als allen objektiven Erklärungen.
30. Oktober 2006
"Zwei Anmerkungen"
Aurel Schmidt schreibt: Jullien zieht den Vergleich mit einem Blasebalg (Tao Te King, V). Alle Leserinnen und Leser, die eilig zum Tao Te King (Dao De Jing) in der wundervollen Übersetzung von Richard Wilhelm gegriffen haben, finden im Kapitel 5 die Flöte statt des Blasebalgs. Das Original schreibt tuo2 yue4 "Beutel-Flöte", also Dudelsack:

Zu François Jullien allgemein: Allen, die François Julliens Schriften lesen und bewundern, sei Jean-François Billeters "Contre François Jullien" (Paris, 2006) zur Lektüre empfohlen. Erstens, weil sich an den Schriften eines Gegners die Nachvollziehbarkeit von Argumenten überprüfen lässt, und zweitens, weil öffentlich und publizistisch ausgetragene Wissenschaftlerhändel selten geworden sind.
Thomas Bachmann, Basel