... Peking: Rot, Blau, Grün, Geld
Seit ich mich auf OnlineReports.ch brieflich melde, ist das – wenn ich richtig gezählt habe – bereits der vierte Brief aus Peking. Ich verbringe zwar, wie die kluge Briefleserin und der geneigte Briefleser mittlerweile wissen, die meiste Zeit auf Reisen. Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt mit vielen Freunden und Bekannten jedoch ist und bleibt die chinesische Hauptstadt.
In keiner andern Stadt habe ich, zusammengezählt, länger gelebt als in Peking. Meine Geburts- und Heimatstadt Basel eingeschlossen. So fühle ich mich denn in Peking irgendwie vertraut, aufgehoben, wohl und locker. Peking aber war für mich nie "Liebe auf den ersten Blick". Das war und ist bis auf den heutigen Tag eindeutig Hanoi. Als lebenslanger Zigeuner jedoch habe ich auch gelernt, mich in jeder Stadt irgendwie und irgendwann wohl zu fühlen. Auf die Frage also, welche Stadt meine Lieblingsstadt sei, kann die Antwort nur differenziert ausfallen. In X etwa finde ich das und in Y jenes toll. Ein Beispiel: In Basel wurde ich geboren, habe ich Schulfreunde, und der legendäre "Basler Nachrichten"-Chefredaktor Oskar Reck hat mir Journalismus vom Feinsten beigebracht, in Madrid oder Washington dagegen habe ich zwei zusätzliche westliche Kulturen kennen und schätzen gelernt und viele lebenslange Freunde gefunden.
Um auf Peking zurückzukommen: Eine Liebeserklärung kann ich jederzeit abgeben, denn die chinesische Hauptstadt (und China) war und ist ohne Zweifel der Mittelpunkt der Welt, und wird es auch bleiben. Man sieht, ich fühle mich schon so heimisch, dass ich diese allgemeine chinesische Auffassung bereits – jawoll, kritiklos! – übernommen habe. Was mich am meisten fasziniert, ist der rasante Wandel. Die Stadt und ihre Bewohner verändern sich laufend. Flexibilität, Anpassungsvermögen und Neugier ist für fremde Zugezogene deshalb nötig, ja unabdingbar. Das ist nicht immer einfach, aber belebend.
Vor dreiundzwanzig Jahren war Peking, obwohl bereits im Jahre sieben der Wirtschafts-Reform, noch ziemlich Rot, Blau, Grün und Gelb. Rot steht dabei für Kommunismus und Blau-grün für das westliche Klischee von den "blauen und grünen Ameisen", weil damals noch fast ganz China blau oder grün gewandet war. Ein weiteres Klischee übrigens, jenes von der "gelben Gefahr", hat sich bis auf den heutigen Tag im Westen erhalten, also von Napoleon, der vor rund zweihundert Worten den Ausdruck geprägt, über Kaiser Wilhelm, der ihn vor rund hundert Jahren wiederholt hat, bis Konrad Adenauer, der vor fünfzig Jahren im Bundestag bei einer China-Debatte nur unheilsschwanger ausrief: "Schina, Schina, Schina". Heute wird die "gelbe Gefahr gelegentlich bemüht, um auf die (unbegründete) Angst, dass Chinas Arbeiter uns im Westen die Arbeitsplätze stehlen, zu reagieren.
Das wichtigste aber bei der Beurteilung des persönlichen Wohlbefindens in einer Stadt sind Freunde und Bekannte sowie, undefinierbar, das Bauchgefühl. Wenn es nach dem Bauchgefühl geht, ist für mich die Nummer 1 eindeutig Hanoi. Zuhause jedoch fühle ich mich überall und nirgends. Wenn ich also in Estavayer-le-Lac bin, habe ich Heimweh nach Peking; wenn ich in Peking bin, nach Basel; in Basel nach Madrid; in Madrid nach Washington; in Washington nach Hanoi; in Hanoi nach Hongkong. Undsoweiter undsofort.
Unterdessen ist der Wandel in Peking derart auf die Spitze getrieben, dass Weihnachten als modisches Fest gefeiert wird. Der Unterschied zwischen New York, Paris, Basel oder Genf und Peking ist nicht mehr sehr gross. Überall Tannenbäume, Leuchtgirlanden, Santa Claus, Jingle Bell und Merry Christmas. Und Konsum, Konsum, Konsum. Der Kaufrausch soll ja, gerade in Zeiten der Krise, belebend wirken, nicht wahr.
Ich meinerseits werde Weihnachten en famille bei Hypokras und selbstgebackenen Gutzeli, und Sylvester mit einer Flasche chinesischen Champagners - exgisi Schaumweins - auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen verbringen. In der Seele etwas Heimweh nach Hanoi oder Basel oder oder oder.
15. Dezember 2008