... Shangri-La: Paradise Lost
Shangri-La, über dreitausend Meter über dem Meeresspiegel. Man meint zu träumen. Diese Luft! Dieses Licht! Diese freundlichen Tibeter! Kurz, Shangri-La, die Metapher fürs irdische Paradies, Glückseligkeit, Abgeschiedenheit, die mythische Hymalaya-Utopie.
Schon einmal war ich hier. Vor langen, langen Jahren. Nur eben, damals hiess Shangri-La noch Zhongdian, und von Lijiang (1'800 m über Meer) führte damals nur eine schwierig befahrbare Dreckstrasse zum über 3'000 Meter gelegenen Hochplateau. Vor sieben Jahren wurde der Kreis Zhongdian hochoffiziell in den Kreis Shangri-La umbenannt.
Der in esoterischem Weihrauch gehüllte Name freilich ist Fiktion. Der britische Autor James Hilton publizierte 1933 den Roman "Lost Horizon". Ein Riesenerfolg. Mit Konsequenzen.
Nicht nur mystisch Angehauchte und Bewegte nämlich waren begeistert. Auch Politiker witterten Morgenluft. In den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts hofften so zum Beispiel die Nazis, im sagenumwobenen Shangri-La eine alte, der heimischen Elite verwandte "Herrenrasse" zu finden. Gröfaz Adolf schickte 1938 eigens eine Expedition nach Tibet. Expeditionsführer Ernst Schäfer musste jedoch - Heil Hitler! - unverrichteter Dinge nach Deutschland zurückkehren.
Auch der legendäre amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt bewunderte James Hiltons Roman. 1942 wurde deshalb die präsidiale Sommerresidenz - heute "Camp David" - mit dem Namen Shangri-La beehrt. Während des Zweiten Weltkriegs im Pazifischen Ozean erhielt sogar ein US-Flugzeugträger den stolzen Namen "USS Shangri-La".
Das moderne Shangri-La in der chinesischen Süd-West-Provinz Yunnan hat das gemacht, was mindestens ein Dutzend weiterer Orte und Regionen im Himalaya-Gebiet - von Pakistan und Nordindien über Tibet, Sikkim, Butan bis hin zur chinesischen Provinz Sichuan - versucht haben oder versuchen: Mit dem legendären Namen den Tourismus anzukurbeln.
Dem chinesischen Shangri-La ist das bisher recht gut gelungen. Eine erstklassige Strasse führt heute von Lijiang ins abgelegene Hochtal, und modernste Stromleitungen sind über grüne Yak-Weiden in die Höhe gezogen worden. Mobil-Telephons und Internet sind eine Selbstverständlichkeit. Paradise Lost? Vielleicht.
Die Altstadt von Shangri-La gleicht im Ansatz ein wenig Ballenberg. Alles schön hergerichtet, renoviert, neu gebaut im alten Stil. Restaurants, Bars, unzählige Läden mit Touristen-Tand aber auch lokal gefertigtem Kunsthandwerk. Im Kreis Shangri-La wird Landwirtschaft, hauptsächlich Viehwirtschaft betrieben, das zweite, kleinere Standbein neben dem schnell überhandnehmenden Tourismus. Unterdessen ist nämlich auch ein kleiner Flughafen dem Verkehr übergeben worden, auf dem modernste Passagier-Jets landen und starten können. Wintersport auf drei- bis viereinhalbtausend Meter Höhe ist der neueste Trend, der noch mehr Touristen verspricht. Auch Trekking steht hoch im Kurs, ist doch die weitere Umgebung Shangri-Las Naturschutzgebiet.
Wie überall, wo Tibeter leben und arbeiten, gibt es auch in Shangi-La ein Kloster. Die 600 Mönche fragen die besuchenden Touristen das, was Mönche in der benachbarten Autonomen Region Tibet die Touristen fragen: "Haben Sie ein Bild des Dalai Lama?" Das sind gewiss keine von Peking instrumentalisierte Jubel-Mönche, wie einem von Exil-Tibeter-Kreisen suggeriert wird.
In dieser Höhe mit dem unvergleichlichen Licht und der dünnen Luft lässt sich trefflich darüber nachdenken, ob im tibetisch bewohnten Shangri-La die traditionelle Kultur vernichtet wird, oder ob hier - wie der Dalai Lama von ganz Tibet behauptet - "kultureller Genozid" betrieben wird.
Nun, überall dort, wo Tourismus betrieben wird, verändert sich die Welt. Nirgendwo gibt es heute noch weisse Flecken auf der Weltkarte. Das trifft für Tibet zu genauso zu wie für jede andere Region auf unserem Planeten. Es gibt auch keinen "grünen", kulturneutralen Tourismus.
Selbst Rucksacktouristen, die sich doch so viel darauf einbilden, schonend und kulturneutral zu reisen, verändern die besuchte Umwelt ökonomisch, sozial und kulturell. Und wie steht es um die Naturliebhaber und Alpinisten, die beispielshalber in Nepal trecken und Gipfel erklimmen, und dabei tonnenweise Abfall zurücklassen? Oder jene spirituell Angehauchten, die den Dalai Lama als "Seine Heiligkeit" ansprechen und von der Bewahrung der tibetischen Kultur schwafeln, gleichzeitig aber um den Heiligen Berg Kailas gehen und dabei die echten Pilger so nachhaltig stören wie es selbst eine Kolonne der chinesischen Volksbefreiungs-Armee nicht schlechter zustande brächte.
Ist die Schweizer Regierung oder das Schweizer Volk je des "kulturellen Genozids" am Romanischen Volk bezichtigt worden? Schliesslich sind ja in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bösen Engländer als Touristen in die Alpentäler geströmt, nein eingefallen und haben dort alles verändert. Das Engadin heute und vor 150 Jahren - wie viel ist aus der Sicht des St. Moritzer Palace Hotels, des Dracula- oder des Corviglia-Clubs von der alten Kultur übriggeblieben? Das Verlorene Paradies im Kanton Graubünden. Paradise Lost. Doch was für ein Licht! Was für eine Luft! Was für freundliche, romanisch-sprechende Engadiner!
1. September 2008
"Eine exzellente Beurteilung"
Peter Achten spricht mir wieder einmal aus dem Herzen. Ich hoffe nur, dass seine exzellente Beurteilung auch von weiteren einflussreichen Medien übernommen wird, damit auch offenbar nicht so gut orientierte Leute die Lage endlich etwas vernünftiger und besser orientiert beurteilen. Nur weiter so!
Hans Lippuner, Steinhausen