... Kolkata: Himmel, Hölle und "Flury’s"
Oh! Calcutta!! Was für eine schwierige Stadt!!!
Ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum in Ostindien am Golf von Bengalen mit grosser Vergangenheit und einer noch grösseren Zukunft. 19 Millionen Einwohner, davon gut fünf Millionen Migranten, leben in Kalkutta, wie die Stadt unter den englischen Kolonisatoren hiess. Kolkata ist Himmel und Hölle zugleich. Das tägliche Elend ist so nah. Hunderttausende von Familien nächtigen unter freiem Himmel und versuchen am Tag, einige Rupien zu verdienen. Überleben ist schwierig. Daneben gibt es wie eine aufstrebende Mittelklasse und selbstverständlich die Reichen und Super-Reichen. Das alles mischt sich in Kolkata. Wenn die Metapher "im Dschungel der Grossstadt" für einmal angebracht ist, dann sicher für Kolkata.
Es fängt beim chaotischen Verkehr an mit den Miriaden von gelben Taxis, fabriziert nach englischem Vorbild vom berühmten indischen Industrie-Clan Birla. Die Luft ist zum Schneiden. Der Lärm von Auto-Hupen und Verkehrspolizei-Lautsprechern unerträglich. Doch die Bengali, arm und reich, bewegen sich in ihrer Stadt, wie wenn nichts geschehen wäre. Paläste und Hütten prägen das Bild.
Kolkata ist die kulturelle Hauptstadt Indiens, ähnlich wie Basel in der Schweiz (Zürich als Wirtschafts- und Finanzzentrum wäre dann etwas mit dem indischen Mumbai und Bern als Regierungssitz mit Neu-Dehli zu vergleichen). Das literarische und philosophische Genie Rabindranath Tagore zum Beispiel wurde in der Stadt geboren ebenso wie der auch im Westen unterdessen berühmte Filmregisseur Satyajit Ray. Seit die Briten Anno Domini 1690 in Kalkuta Fuss fassten, wurde die Stadt auch Handelszentrum. Bengalen trug damals als reichste Provinz von britisch Indien bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zum Reichtum Indiens und Grossbritanniens bei. Von 1885 bis 1911 gar war Kalkutta Hauptstadt des englischen Vizekönigreichs Indien, über das die legendäre Queen Victoria seit 1877 als Kaiserin von Indien regiert hat.
Heute setzt Kalkutta als Hauptstadt der Provinz Westbenageln (doppelt so gross wie die Schweiz, 80 Millionen Einwohner) im reformorientierten Indien wirtschaftlich erneut zu einem grossen Sprung nach vorne an. Unter kommunistischer Regierung, notabene.
Dennoch, für den flüchtigen Besucher – also zum Beispiel Touristen – sind die Gegensätze der vibrierenden Stadt oft unerträglich. Spindeldürre Gestalten betteln vor Luxus-Hotels um eine Handvoll Reis.
Schon während der Kolonialzeit gab es eine kleine, gebildete Oberschicht. Das waren Bengali, aber auch ausländische Händler aus allen Herren Länder, beispielshalber Armenier, Chinesen, Juden, Parsi, Araber. In den zwanziger Jahren etablierten sich in Kolkata viele Etablissements in der Park-Street, wo es sich die Wohlhabenden gut gehen liessen.
Auch heute ist das noch so. Im Kim Ling zum Beispiel isst man seit über hundert Jahren Peking-Ente, Sichuan-Huhn oder Hakka-Nudeln. Kim, in der x-ten Generation in Kolkata ansässig, lacht, als er mich sieht und sagt: "Das Geschäft läuft prima."
Eine Institution freilich an der Park-Street ist der Tea-Room "Flury’s". Feinsten Darjeerling-Tee – weil vom eigenen Teegarten geerntet – exquisiten Kaffee und Kuchen und Patisserie vom Feinsten wird dort seit 80 Jahren genossen. Ein pensionierter Tee-Händler am Nebentisch ist voll des Lobes: "Seit 40 Jahren frequentiere ich das 'Flury's'. Es ist das alt-Europa. Die beste Schokolade östlich von Westeuropa bekommt man hier." Auch Paul Wilson am Tisch gegenüber erinnert sich gern. Er sei als Knabe mit den Eltern nach Ausbruch des II. Weltkrieges von Burma nach Kalkutta geflohen. "Das Grösste für mich als Primarschüler", so Wilson, "war immer der Besuch am Samstag bei 'Flury’s'". Wilson lebt heute in den USA und wollte seiner Tochter Grace seine Jugend in Kalkutta näherbringen.
"Flury’s" wurde 1927 gegründet vom Zürcher Ehepaar Joseph und Frieda Flury. "Die Schweizer Perfektion", sagt der heutige Chef-Kellner. In der Tat, an der Patisserie-Auslage wird der Mund wässrig. Bei "Sprüngli" am Zürcher Paradeplatz – das Mekka der Tärtli-Liebhaber – könnte es nicht besser sein. Es ist deshalb wenig überraschend, dass "Flury’s" grosses Vorbild tatsächlich das "Sprüngli" seiner Heimatstat Zürich war, als er in Kalkutta sein Tea-Room eröffnete. 1965 hat Joseph Flury sein "Flury’s" verkauft an eine indische Industriellen-Familie. Bis heute aber ist es eine Institution an Kolkatas Park-Street geblieben. Qualität wie in früheren Zeiten eingeschlossen.
Die Wirklichkeit freilich holt einen schnurstracks ein. Keine zweihundert Meter von "Flury’s" entfernt betteln hagere Mütter mit Babies mit aufgequollenen Hungerbäuchen um Babypulvermilch. Eine mittelgrosse Dose bester Qualität (Nestlé) ist dort für 360 Rupien, umgerechnet etwa zehn Franken, zu haben. Von den 1,1 Milliarden Indern verdienen gut 900 Millionen gerade einmal 100 Rupien (umgerechnet 2,8 Franken) oder weniger pro Tag.
Oh! Calcutta!! Was für eine schwierige Stadt.
3. November 2008