... Delhi: Indien und seine Butter-Hühnchen
Der Vergleich China-Indien wird immer wieder bemüht. Wirtschaftlich, politisch und sozial werden die beiden asiatischen Riesen gegeneinander abgewogen, ja gelegentlich ausgespielt. Vermutlich wird die Zukunft eher ein Miteinander als ein Gegeneinander sein. Die Kontraste sind zwar gross, doch meist ergänzen sie sich. Allerdings gibt es Auguren, Experten und Pundits - auch im deutschsprachigen Raum -, die bereits vollmundig, alarmierend oder auch nur kühl-faktisch die kommende Weltmacht Indien oder die künftige Supermacht China prognostizieren.
Nun denn: Prognosen sind riskant, zumal - und das lehren Vergangenheit und Gegenwart zugleich - geschichtliche Unfälle gar selten ins Kalkül der Experten einfliessen. Wer hat den Verfall des Kommunismus Anfang der neunziger Jahre auch nur Monate zuvor vorausgesehen? Wer hat Nine-Eleven nur Stunden zuvor für möglich gehalten? Und wer hat die gegenwärtige Finanz-Krise auch nur ansatzweise korrekt eingeschätzt? Eben.
Wie sich Indien und China in den nächsten fünf, zehn Jahren entwickeln werden, ist für die Weltwirtschaft und die internationale Gemeinschaft wichtig, vielleicht sogar entscheidend. Wird beispielshalber Indien als ständiges Mitglied in den Uno-Sicherheitsrat einziehen, wo China als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs bereits sitzt? Werden beide Länder den jetzigen Wachstumsrausch fortsetzen können? Eventuell zusammen mit den USA als Motor der Weltwirtschaft? Wird der wachsende Abstand zwischen Arm und Reich sowohl in China als auch in Indien zu gewaltigen sozialen Spannungen, ja blutigen Konflikten führen? Werden schliesslich Peking und Delhi zum Wohle aller Inder und Chinesen friedlich kooperieren? Oder wird es, wie schon in den sechziger Jahren, wieder zu einem bewaffneten Konflikt kommen?
Fragen über Fragen. Nicht ganz unerheblich, wird doch in zwanzig Jahren ein gutes Drittel der Weltbevölkerung in diesen beiden asiatischen Nationen leben.
Von China ist seit Jahren sehr viel mehr zu lesen, zu hören und zu sehen als von Indien. Das ist der mediale China-Hype im Westen. Aber man täusche sich nicht. Indien holt seit Beginn der Wirtschafts-Reform Anfang der neunziger Jahre stark auf. Vermutlich wird der nächste Medien-Hype bald Indien über allen Klee loben, und - wie jetzt gegenüber China - wird in den westlichen Industrieländern und Japan Bewunderung auch mit einer gewissen wirtschaftlichen Angst einhergehen.
Das alles geht mir durch den Kopf, als ich frisch vom olympischen Peking kommend in Neu-Delhi lande. Was für ein Gegensatz! Im Guten wie im Schlechten. Der Übergang von einem autoritären in ein demokratisches Land hat eben Vor- und Nachteile. Im Vergleich mit China hat Indien eine sichtbar schlechtere Infrastruktur wie Strassen, Eisenbahn, städtische Metros oder Flughäfen, mehr Bettler und mithin offene Armut. Andrerseits führen die demokratischen Gepflogenheiten Indiens zu mehr Transparenz, mehr Offenheit und auch zu mehr Innovation. Indiens Medien gehören zu den besten weltweit, auch und gerade dann, wenn man Indien etwa mit der Schweiz vergleicht.
Im inhaltlich wie formal hervorragend gemachten Wochenmagazin "Outlook" schrieb Chefredaktor Vinod Mehta kürzlich in einem Kommentar zur Situation der indischen Zeitschriften wörtlich: "Auf die Gefahr hin, den Leser zu langweilen, hier einige Sätze aus meiner Rede [am jährlichen Kongress der indischen Magazine in Mumbai]: Inhalt ist mehr, sehr viel mehr, als das, was die Leser und Leserinnen wollen. Inhalt hat auch eine soziale Dimension. Inhalt ist somit ein Mix aus dem, was der Leser will und was er nicht will. Der Trick liegt darin, aus dem Mix Geld zu machen." Oder anders ausgedrückt: Sehr wohl soll geschrieben werden, was den Leser interessiert, gleichzeitig aber ist es auch Aufgabe des Journalismus, das werte Publikum an Themen heranzuführen, welche flinke Marktforscher und marktgläubige Verleger übersehen oder absichtlich ignorieren, aber für den Konsumenten wichtig sind.
Chefredaktor Mehta freilich wäre nicht nur in der Schweiz ein einsamer Rufer in der Wüste. Auch in Indien, so schreibt er in seinem Kommentar, sei er mit seiner Meinung offenbar nach gängiger Meinung nicht mehr im Einklang mit dem Markt. Aber, so Mehta, "Journalismus ist nicht ein Butter-Hühnchen", das man ganz und allein nach dem Geschmack der Leser und Leserinnen zubereiten muss.
Wie wahr. Aber eben in Indien – wie in der Schweiz - nicht verlegerisch-politisch korrekt. Möglich allerdings ist auch, dass "Outlook"-Chefredaktor Vinod Mehta - genauso wie ich - ein journalistisches Auslaufmodell ist.
24. November 2008