... Mianzhu: Der Tod des einzigen Kindes
Eine kleinere Stadt in der westchinesischen Provinz Sichuan. Montag, 12. Mai, früher Nachmittag. Kinder lernten, wie sonst wo in China, fleissig in den Klassenzimmern der Primarschule Nummer 2. Dann brach die Welt buchstäblich zusammen. Von einer Sekunde auf die andere. Ein Erdbeben von Stärke 7,9 auf der nach oben offenen Richterskala zerstörte Stadt und Leben. 127 Kinder der Primarschule Nummer 2 kamen ums Leben. In Mianzhu - nicht weit entfernt vom Epizentrum des Bebens - starben, wie später bekannt wurde, 10'000 Menschen. Davon wurden allein 2'000 Schülerinnen und Schüler und Lehrer in den Trümmern von elf Primarschulen getötet.
Viele Bewohner Sichuans sind der Zentralregierung dankbar für die schnelle Hilfe. Premier Wen Jiabao, zuvor schon fast so etwas wie der gütige Landesvater, eilte ins Katastrophengebiet, dirigierte die Rettungsarbeiten, tröstete und konnte glaubhaft den Opfern das Mitgefühl von Partei und Regierung vermitteln. In alter konfuzianischer Tradition sozusagen und ganz auf der beim letzten Parteitag im Oktober 2007 verabschiedeten politischen Linie einer "harmonischen Gesellschaft".
Die Lokalbehörden jedoch kamen weniger glimpflich davon. Ihnen wurden schwere Mängel vorgeworfen, nicht in der unmittelbaren Antwort auf das Erdbeben, sondern vielmehr wegen gravierender Versäumnisse der letzten Jahre. Öffentliche Gebäude, zumal Schulen, seien - so der provinzweite Vorwurf - wegen Korruption und Zahlung von Schmiergeldern mangelhaft gebaut worden, weit unter dem üblichen Qualitäts-Standard. Aktenkundig sind inzwischen Beispiele, wo Bauunternehmer im stillschweigenden Einverständnis mit den Lokalbehörden die Kosten hoher Qualität fakturiert, aber die Ware nicht im nötigen Mass geliefert hätten. Zuwenig Stahl, zuwenig Beton, zuwenig Baukontrolle - Gebäude kollabierten beim Erdbeben wie Kartenhäuser.
Die Zentralregierung hat sofort reagiert und glaubhaft versichert, dass die Vorfälle minutiös untersucht und die Schuldigen nach dem Gesetz strengstens bestraft werden. In Extremis kann ein Schuldspruch die Todesstrafe nach sich ziehen.
In Mianzhu trauern die Eltern der toten Kinder. Und sind zornig. Sie verlangen Gerechtigkeit. Der lokale Parteichef ging vor den Eltern in die Knie, wie eine chinesische Zeitung schrieb, und bat sie, das Ergebnis der Untersuchungen abzuwarten. Die Eltern jedoch demonstrierten weiter. Die Polizei schritt ein. Es waren zu viele chinesische und ausländische Journalisten in Mianzhu.
Für viele Eltern in Mianzhu und der Provinz Sichuan ist der Tod ihres Kindes umso tragischer, als sie wegen der seit 1979 gültigen Ein-Kind-Familienpolitik ihr einziges Kind verloren haben. Die Behörden reagierten prompt. Ein zweites Kind ist für all jene erlaubt, die ein Kind durch das Erdbeben verloren haben. Für die älteren unter den Eltern allerdings ist das ein schwacher Trost, selbst die Summe von 600 Yuan (umgerechnet 90 Franken), die sie jetzt für ihr totes Kind erhalten.
Viele der Eltern, die den Tod ihres einzigen Kindes beklagen, haben zuvor alles für ihr Kind getan. Meist arme Bauern, sind sie in die grossen Städte migriert auf der Suche nach Arbeit. Mit dem sauer verdienten Geld wollten sie ihren Kindern die bestmögliche Erziehung, und der ganzen Familie eine bessere Zukunft ermöglichen.
Das Erdbeben nahe von Mianzhu hat alles zerstört.
10. August 2008
