... Thiruvananthapuram: Indischer Reichtum
Zugegeben, der Name ist ziemlich lang, exotisch und auf den ersten Blick nicht gerade verständlich. Und dennoch: Thiruvananthapuram ist nichts weniger als eine Stadt, eine Grossstadt mit über einer Million und ein Bezirk mit drei Millionen Einwohnern. Die Stadt hat aus kolonialer Zeit auch einen kürzeren Namen, nämlich Trivandrum. Heute ist die Stadt am südlichsten Zipfel der indischen Union auch Hauptstadt der Provinz Kerala. Kerala wiederum ist eine der 28 indischen Provinzen. Die Einwohnerzahl von 32 Millionen ist für indische Verhältnisse Mittelmass, für Europa hingegen wäre das schon eine Mittelmacht. Flächenmässig ist Kerala mit rund 39'000 Quadratkilometern ein wenig kleiner als die Schweiz und die Bevölkerungsdichte ist mit über 800 Menschen pro Quadratkilometer enorm. Man stelle sich das vor, die Schweiz mit – sagen wir – 30 Millionen Einwohnern. Das Boot ist schliesslich voll!
Kerala erscheint auf dem Nachrichtenschirm der globalisierten Welt mit seiner Kultur von Instant-Nachrichten – auf Neudeutsch "Breaking News" – nur sellten. Das ist meist ein gutes Zeichen. Keine Bomben wie neulich in Neu-Dehli oder Gujarat, keine Terroristen-Angriffe wie in Kashmir, keine Übergriffe auf die christliche Minderheit wie in der Provinz Orissa oder in Bangalore, der Techno-Hauptstadt Indiens. Kerala ist vielmehr eine ruhige Provinz mit einer grossen Vergangenheit und einer vielversprechenden Zukunft. Von den landschaftlichen Schönheiten – zum Beispiel den Backwaters – ganz zu schweigen. Selbst bei schwerem Monsunregen ist Kerala, abseits des geschäftigen Touristenstroms, immer eine Reise wert.
Wie so vieles in Asien im Allgemeinen und Indien im Besonderen hat Kerala eine legendäre Vergangenheit. Die sechste Inkarnation des Hindugottes Vishnu, Parashuram, soll seine Axt ins Meer geworfen haben, und dort, wo sie versank, hat sich das Meer zurückgezogen und hat Kerala geschaffen. Der heutige Name Kerala heisst soviel wie das Land der Kokosnuss. Kein Wunder, Kokospalmen überall.
Das aber ist bei weitem nicht der einzige Reichtum. Gewürze, Sandelholz, Getreide aller Art, seit der Kolonialzeit Kautschuk, Tee, Cashew-Nüsse und früher Elfenbein sind und waren begehrte Handelsgüter. Die Bewohner Keralas waren innovative Händler schon vor über 2'000 Jahren. Phönzier, Römer, Araber und Chinesen kreuzten vor Keralas Küste auf, trieben einen profitablen Güteraustausch, lange Jahrhunderte bevor der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama im Jahre des Herrn 1498 Indien erreichte. Das Christentum, eingeführt von syrischen Händlern, erreichte Kerala noch vor Westeuropa. Der Islam wiederum hatte in Kerala seine ersten Anhänger in Indien. Tempel, Kirchen und Moscheen, ja sogar Synagogen sind in den grösseren und kleineren Ortschaften Keralas unübersehbar. Heute leben Moslems, Christen und Hindus friedlich zusammen, eine Seltenheit in Indien und darüber hinaus.
Kerala schneidet gegenüber andern indischen Provinzen noch in anderer Hinsicht gut ab. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat 73 Jahre erreicht (Indien: 65 Jahre), die Säuglings-Sterblichkeit liegt bei 14 Babies auf 1'000 Lebendgeburten (Indien: 56), die Geburtenrate wird in der Statistik mit 18 pro 1'000 Einwohnern angegeben (Indien: 23). Vor allem aber hat Kerala die mit Abstand grösste Alphabetisierungs-Rate in ganz Indien: satte 91 Prozent. Selbst die Unions-Hauptstadt Dehli kommt nur auf 82 Prozent, der landesweite Durchschnitt liegt gar bei bescheidenen 65 Prozent. Die gute Ausbildung zahlt sich aus. Überdurchschnittlich viele Keralas sind in der IT-Industrie und im Handel tätig. Kein Wunder auch, dass über zwei Millionen Keralas im Ausland, vor allem im Nahen Osten, arbeiten.
Eine gute Regierung, transparent geführt, demokratisch gewählt, dazu eine kritische, lebendige Presse – all das hat zum positiven Ergebnis in Kerala geführt, sagt mein Begleiter, Soziologiestudent Prasad Roy. Wie wahr. Keralas Regierung ist nämllich kommunistisch. Europäer zucken zusammen. Wer wählt denn in der heutigen Zeit noch Kommunisten? Und erst noch in die Regierung. Der Kommunismus lebt! Lebt er? Jein, wäre die Antwort. Der Kerala-Kommunismus liesse sich – so Pradad Roy – etwa vergleichen mit linken Schweizer oder deutschen Sozialdemokraten. Mit dem Unterschied allerdings, dass man in Kerala weniger dogmatisch ist und die Globalisierung nicht verteufelt, sondern kritisch verfolgt und nutzbar macht.
Der Abschied im Zug Richtung Chennai (Madras) und später nach Kolkata (Kalkutta) fällt schwer. Nicht wegen des Kommunismus, sondern der liebenswerten Keralas wegen.
13. Oktober 2008