Der Staat im Stau
Der Staat ist eine andere Bezeichnung für eine gewollte, vereinbarte gesellschaftliche Ordnung. Dieser Staat ist heute des Teufels: Ein lästiger Störfaktor; ein Monster. Als Leser von Bakunin und Kropotkin beziehungsweise anarchisch und antiautoritär denkender Mensch kann ich das halbwegs verstehen. Zuviele Reglementierungen können ein Ärgernis sein, aber sie sind dort unerlässlich, wo das Zusammenleben der Menschen geregelt werden muss. Doch die Kritik am Staat meint in Wirklichkeit etwas anderes. Wenn er angeblich die freie Entfaltung der Individuen behindert, dann ganz besonders jener Individuen, die ihre luschen Geschäfte gern in Eigenverantwortung verfolgen wollen.
Dass ausgerechnet diejenigen Kreise den Staat kritisieren, die ihn für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist unübersehbar. Sie wehren sich gegen Kontrollen, weil sie nicht alles und nicht alles auf der Stelle tun können, was sie gern möchten, aber das geht tatsächlich nicht. Bakunin hat noch ein "Gewissen" vorausgesetzt. Individuelle Freiheit ist keine brauchbare Grundlage. Der Eigennutz, der aus den Zeiten von Bernard Mandeville und Adam Smith der Allgemeinheit als Vorteil zugute kommt, ist heute ein Märchen. Wer mehr will, muss es den anderen wegnehmen. Das ist, wie die Thermodynamik zeigt, in jedem geschlossenen System so.
Demokratie, die akzeptabelste politische Verfassung des Staates, ist zwar gut, sagen die neuen Staatsfeinde, aber bitte keine "Exzesse". Wo der Exzess beginnt, sagen sie nicht, aber er beginnt genau dort, wo sie davon reden. Man sagt "Demokratie nach Augenmass" und begnügt sich mit Demokratie als Deklamation und Dekoration, nicht als Praxis. Denn offenbar ist sie ohne weiteres in der Lage, auf die Verhältnisse Einfluss zu nehmen. Jedes Mal, wenn ihr dies gelingt, ruft sie Widerstand hervor.
Deshalb liegt vielen daran, Staat und Demokratie einzuschränken und abzubauen. Das ist ein durchsichtiges Geschäft. Das Volk ist eine Bremsmaschine. Privatisierung lautet das Rezept, um schalten und walten zu können, aber das heisst soviel wie Verlust von demokratisch verstandener Öffentlichkeit.
Jedes Mal, wenn der Finanzminister Merz die Steuern wieder senkt, muss er erneut sparen, und je mehr er spart, desto weniger Geld steht zur Verfügung. Mit dem Ergebnis, dass Bildung, Kultur, Gesundheit, soziale Aufgaben zu kurz kommen. Krankheit ist ein Verlustgeschäft (ausser in Privatkliniken) und Bildung Privatsache (vor allem in Privatschulen, zu denen auch Koranschulen gehören dürften). Aber nicht nur das. Jetzt "verlottert" sogar die Armee und kommen der öffentliche und private Verkehr unter die Räder. Auf eine Milliarde soll Bundesrat Leuenberger verzichten. Da nützen die erzielten Steuerersparnisse den Wohlhabenden auch nicht mehr viel, wenn sie auf der Fahrt von ihrem Wohnort im Grünen zur Arbeit in der Stadt im Verkehrsstau stecken bleiben.
Soweit kommt es, wenn der Staat verabschiedet wird. Der Stau ist hier natürlich in einem pointierten Sinn gemeint. Rien na va plus.
Ob dann alles besser läuft, ist eine Frage, die noch nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden kann.
8. September 2008
"Es braucht eben doch einen starken Staat"
Es ist ja erstaunlich. Da rufen die Neoliberalen nach weniger Staat und postulieren, dass mehr Wettbewerb die Preise senkt. Der kleine Mann erlebt das ebensowenig wie die Frau von der Strasse. Ihr Leben wird nur teurer und teurer. Aber das interessiert nicht. Wo aber der Wettbewerb zu hohen Strompreisen führt, da ruft die Industrie vehement zu mehr Staat auf. Was man vom kleinen Mann überhört, wird für die Industrie plötzlich sehr bedeutsam. Die neoliberale Wirtschaftsordnung frisst sogar ihre eigenen Kinder auf. Es braucht eben doch einen starken Staat. Wie damals so auch heute.
Xaver Pfister, Basel