Vom religiösen Charakter der Wirtschaft
Der Schreck der Finanzmarktkrise sitzt noch in den Knochen, aber die Propagandisten haben bereits wieder ihre Posaunen hervorgeholt. Die Liquidität ist hoch und die Börsenkurse sind tief, das heisst attraktiv. In den USA investieren mutige Anleger wie Warren Buffet in Aktien. Die Talsohle dürfte erreicht sein. Der Markt widersteht standhaft allen Anfechtungen. Volkswagen gibt Entlassungen bekannt, gleichzeitig schnellt die Akte um 200 Prozent in die Höhe. Für die Banken werden Milliarden bedingungslos locker gemacht, die AHV-Initiative wird dagegen mit dem Argument bekämpft, sie verursache Milliardenkosten.
Kompetente Manager haben angeblich ein Recht auf ihre Boni. Doch gerade diese sogenannte Kompetenz hat die Krise verschuldet. Für Daniel Vasella ist die Bonusfrage "Populismus": Niemand würde verstehen, wenn er auf seinen Anteil verzichtete. So reden kann nur, wer die Füsse nicht mehr auf dem Boden der Realität hat und in den Wolken seiner Vollkommenheit schwebt.
Bundesrat Hans-Rudolf Merz hat nach seiner Genesung als erste magistrale Aussage sein Vertrauen in die sich selbst heilenden Märkte verkündet. Ordnung im Land bedeutet für ihn: Gute Finanzordnung. Wir werden sehen, ob er damit den alten Plan meint, Hedge Funds steuerlich zu begünstigen. Man hätte dem Mann gern geraten, mehr auf seine Gesundheit zu achten statt so schnell wie möglich wieder "seinen Mann zu stellen".
Nicht besser macht es der deutsche Merz, mit Vornamen Friedrich, früher christlicher Wirtschaftspolitiker, von dem im dümmsten Moment ein Buch erschienen ist: "Mehr Kapitalismus wagen", wo wir doch die Schnauze voll davon haben. Auf lange Sicht werde die Rendite wieder stimmen, meint er. Nix gelernt, kann man da nur sagen.
Wie der deutsche Merz spricht auch der Schweizer Merz von "Gier" ("eine Todsünde"). Zur Abwechslung ist mal nicht von "Neid" die Rede. Aber um Gier geht es nicht. Das masslos Störende ist, wie einem ununterbrochen der Kopf vollgequatscht wird mit Marktanalysen, Finanzproblemen, strukturierten Produkten, Quartalsergebnissen, Verlust- und Gewinnzonen, Gewinnmitnahmen, Wachstumsraten und so weiter.
Ökonomie sei keine Wissenschaft wie zum Beispiel Physik, schrieb der Physiker und Ökonom Jean-Philippe Bouchaud in der renommierten Zeitschrift "Nature". Er beruft sich dabei auf den US-Ökonomen Robert H. Nelson, der die Auffassung vertrat, man könne den Markt nur als religiöses Phänomen verstehen. Mit anderen Worten: Man glaubt daran oder nicht. So bringt zum Beispiel das Kreditgeschäft (von lat. "credere", glauben, vertrauen) ebenso Gläubiger beziehungsweise Gläubige hervor wie Schuldner und Schuldige.
Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat den Markt als "Mythos" bezeichnet. Mythen haben die Funktion, die Gemeinschaft der Gläubigen im Geist zu einen und sie von den Ungläubigen und Ketzern zu separieren. Propheten und Priester (wie etwa Analysten, Manager und andere) strecken dabei ihre segnende Hand aus.
Der theologische Aspekt erschwert eine rationale Auseinandersetzung über die Wirtschaft. Nur deshalb kann sich ihre normative Macht auf Leben und Denken der Sterblichen ausdehnen. Aber der Glaube hat jetzt eine schwere Erschütterung erfahren.
7. November 2008
