Ziviles Verhalten, regulierte Freiheit
Wieviele Verbote erträgt der Mensch? Mit dieser aufputschenden Frage stellte sich unlängst ein Weltblatt von lokaler Bedeutung an die Spitze der Vox populi. Die unterstellte Antwort ist klar: Keine. Das Wort "Verbot" figuriert zuoberst im schweizerischen Wortschatz der Erregung.
Jede geringste Einschränkung löst heute auf der Stelle einen landesweiten Aufschrei der Entrüstung aus. Geht es um die Einhaltung von Tempolimiten, empört sich die Volksseele. Soll das Rauchen in Restaurants verhindert werden, steht gleich die Freiheit auf dem Spiel, und das in der Schweiz bestens bekannte Wilhelm-Tell-Syndrom entfaltet seine Virulenz. Wenn aggressive, gefährliche Kampfhunde verboten werden, wird das als Hysterie oder Diskriminierung bezeichnet und im Extremfall mit dem Naziregime verglichen - oder Chefbeamte werden gar mit Hitler verglichen.
Aber was hat es mit Bevormundung oder fremder Einmischung zu tun, wenn in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen Geschwindigkeitsbegrenzeungen flächendeckend kontrolliert werden? Leben wir in einem totalitären Staat, wenn es nicht nur verboten ist, sondern auch bestraft wird, Dreck und Hausrat in den Gebüschen des Schützenmattparks zu deponieren? Steht das Ende der Toleranz, der freien Entfaltung der Persönlichkeit bevor? Was ist das für eine Mentalität?
Es ist unbegreiflich, dass die Forderung nach ein bisschen Ordnung und zivilem Verhalten eine solche Vorstellung von Verfolgungswahnsinn verursachen kann. Ist Rücksichtnahme eine Zumutung? Sind Strafen für Übertretungen Abzockerei?
Verbote sind eine negative Umschreibung für den positiv besetzten Bergriff für die Einhaltung von Regeln und Vereinbarungen. Das Zusammenleben muss geregelt werden. Aber in einer Zeit, wo Begriffe wie Freiheit, Selbstverwirklichung, persönliche Autonomie das Denken beherrschen, scheint es unmöglich geworden zu sein, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Jede Anpassung wird als Diktat und als Affront empfunden.
Niemand soll zu seinem Glück oder seiner Gesundheit gezwungen werden. Aber nichts ist dagegen einzuwenden, die Betroffenen, die die Folgen zu tragen haben, vor den stampfenden Draufgängern und Freiheitsanwälten zu schützen.
Am dubiosesten ist die Berufung auf die Eigenverantwortung. Würden alle Menschen tun, was sie für richtig finden – nicht auszudenken. Der schrankenlose, überbordende Individualismus ist der Anfang des volkstümlichen Kannibalismus.
Vor 350 Jahren behauptete Thomas Hobbes, der englische Philosoph der bürgerlichen Gesellschaft, in seinem Werk "Leviathan", der Mensch sei des Menschen Wolf, was nur deshalb ein schiefes Bild ist, weil Wölfe äusserst soziale, kooperative Tiefe sind. Ohne starken Staat, so Hobbes, artet das Zusammenleben in einen Kampf aller gegen alle aus. Jeder Mensch muss daher ein Stück seiner privaten Freiheit abtreten, um das gemeinsame Wohlergehen zu erhalten.
Heute ist der Grundsatz der regulierten Freiheit in Verruf geraten. Begonnen hat der Trend mit der Forderung, alle Restriktionen im Wirtschaftsbereich aufzuheben. Heute kann man verfolgen, wie er das individuelle Verhalten und das gesellschaftliche Leben imprägniert.
26. Dezember 2005
"Welches Rechtsverständnis herrscht bei den schweizerischen bürgerlichen 'Eliten'?"
Es geht nicht um "beschützen", sondern schlicht und einfach um Rechtssicherheit. Die Strassenverkehrsordnung ist ein Recht für die Schwächeren, die Kinder, die alten Menschen, die Fussgänger usw., wie eigentlich jedes Recht erst einmal das Recht der Schwächeren ist. Ich würde Hobbes' Wolfsvergleich in diesem Sinn interpretieren. Wer beispielsweise zu schnell fährt, riskiert, nicht richtig reagieren zu können und gefährdet damit andere Verkehrsteilnehmer. Grenzwerte sind in unseren Verhältnissen keineswegs willkürliche Massnahmen, sondern erarbeitete Grössenordnungen. Es drückt eine Rechtsverachtung sondergleichen aus, wenn der Justizminister eines Rechtsstaates sich über jene lustig macht, die Rechtssicherheit zu gewährleisten versuchen. Ich kenne in Europa ausser der Schweiz und Italien und allenfalls ein paar besonders rechtsfreien Balkanstaaten kein Land, in dem sich ein Justizminister nach solcher Blocheriade noch im Amt halten könnte.
Dieser Umstand alarmiert mich zunehmend. Welches Rechtsverständnis herrscht denn bei den schweizerischen bürgerlichen "Eliten"? Jedenfalls keines, welches den Citoyen ausmachen würde.
Alois-Karl Hürlimann, Berlin
"Verbote müssen immer gut begründet sein"
Thomas Hobbes als Kronzeugen für die "regulierte Freiheit" zu zitieren, ist mehr als unglücklich. Gemäss seiner staatspolitischen Theorie muss jeder Mensch nicht nur "ein Stück seiner privaten Freiheit abtreten", sondern er muss alle Rechte (mit Ausnahme des Rechts auf Selbsterhaltung) an den Herrscher abgeben. Der starke Staat ist bei ihm ein absoluter und allmächtiger Staat, der eben gerade nur totalitär und unter Aufopferung der Toleranz funktionieren kann, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Aus liberaler Sicht empfehle ich vielmehr John Locke (für die Einsicht, dass der Mensch eben kein wildes Tier ist, sondern ein soziales Wesen, das sich in seine Mitmenschen hineinfühlt und daher meistens kooperiert), Adam Smith (für die Erkenntnis, dass das Verfolgen eigener Interessen sehr wohl zu einem allgemeinen Wohlstand führen kann) und natürlich Immanuel Kant (für den kategorischen Imperativ).
Die erste Formel des kategorischen Imperativs lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Mit der eigenen Verantwortung für sich selbst und seine Mitmenschen steht oder fällt das menschliche Zusammenleben. Es genügt nicht, sich nur an staatliche Gesetze zu halten. Die Einbettung in ein soziales System und moralische Werte sind mindestens ebenso wichtig. Genau deshalb halten liberale Denker die Eigenverantwortung hoch.
Verbote sind die Reaktion auf ein Versagen. Sie bleiben in unserer Gesellschaft leider notwenig, müssen aber immer gut begründet sein. Und zwar durch einen gesellschaftlichen Diskurs und nicht seitens einer Autorität, die vorschreibt, was gut und was schlecht für uns ist.
Michael Rossi, Basel
"Das Wohl der Allgemeinheit ist oberstes Gesetz"
"Salus publica suprema lex", diesem Wahlspruch, der seit Jahrhunderten die Wand des Grossrats-Saales ziert, muss endlich Nachhaltigkeit verschafft werden. "Das Wohl der Allgemeinheit ist oberstes Gesetz", in der Tat!
Beim Staat bzw. dessen Legislativen und Judikativen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene muss dringenst ein Umdenken stattfinden. Die Nonchalance, mit welcher der Probleme insbesondere in den Bereichen Kriminalität, Drogen, Ausländer, Asyl sowie öffentlicher, innerer Sicherheit und Ordnung begegnet wird, führt eher früher als später in die Anarchie. Die Ergänzungen im Basler Übertretungsstrafgesetz wie auch die Bestrebungen zur Revision des Hundegesetzes sind erste - wenn auch sehr, sehr kleine - Schritte in die richtige Richtung.
Abdul R. Furrer, Basel
"Vor dem Bösen bewahrt"
Gut zu wissen, dass sich Aurel Schmidt nicht mit Kleinigkeiten wie der Unterscheidung zwischen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft aufhält, sondern für bürgerliche Ordnung sorgt und uns so vor dem Bösen bewahrt.
Baschi Dürr, ein zu Beschützender, Basel
"Gesetzgebung darf nicht überborden"
Man kann Aurel Schmidts zutreffendsten Mahnungen nur beipflichten und muss ihm zu seiner zeitgeistunüblichen Offenheit gratulieren. Bekanntlich ist es seit Jahrzehnten proklamiertes baslerisch-liberales Ziel: Allen grösstmögliche Freiheit zu verschaffen, was hingegen in der Tat nicht mit grössestmöglicher Glückseligkeit zu verwechseln ist! Da Freiheit mit grösstmöglicher Solidarität korreliert, und da der Mensch - leider - unfähig ist, sich objektiv richtig einzuschätzen und einzuordnen, ist die ordnende, nicht aber überbordende, gesetzgeberische Tätigkeit des Staates conditio sine qua non zu authentischer, höchstmöglich gerechter Freiheit.
Oder, wie Aurel Schmidt den vor 350 Jahren aktiven englischen Philosophen Thomas Hobbes zitiert: "Der Mensch ist des Menschen Wolf ... ohne starken Staat artet das Zusammenleben in einen Kampf aller gegen alle aus. Jeder Mensch muss daher ein Stück seiner privaten Freiheit abtreten, um das gemeinsame Wohlergehen zu erhalten." Authentisch baslerisch-liberal, sowohl Hobbes als auch Schmidt, in der Tat!
Patric C. Friedlin, Basel