Wenn das Gras den Asphalt aufbricht
Heute ist ein milder Herbsttag, tiefblauer Himmel, Indian Summer. Eine versöhnliche Stimmung breitet sich aus. Die Aprilscherze von Bundesrat Merz, die Gewinne von Roche, Novartis, UBS, der mediale Hysterisierung der Politik können mir. Bis morgen. Dann schauen wir wieder weiter.
Man muss die Zusammenhänge durchschauen, aber das ist die schwierigste Forderung an den Verstand. Wie gern würde ich manchmal wissen, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, die wie Karnickel vor der Schlange gebannt auf das Display ihres Handys schauen. Ich denke immer: Gleich schnappt das Handy zu – und weg ist seine Besitzerin, verschlungen, verschwunden. Der Ignoranz wohnt eine Tendenz zur Radikalität inne. Sie lässt sich nicht eindämmen und wütet, wo sie kann.
Aber ich wollte über etwas Anderes schreiben. Was braucht der Mensch zum Leben? Was ich mir wünsche, ist ein Wald (Geheimnis, Mythos, Weisheit). Das Erwerbsleben lasse dem Menschen nicht genug Zeit, um den Alltag menschenwürdig zu gestalten, schrieb Henry David Thoreau. Ach ja, auch ein Buch brauche ich, und etwas Musik, Bruckner, Sibelius.
Ich lehne zurück und spüre physisch das Fliessen der Zeit. Die Zeit traversiert mich. Ich atme ein – aus – ein – aus. Der Augenblick, in dem ich das denke, ist einmalig. Das Einmalige ist das Vergängliche. Ich versuche, über diesen Satz nachzudenken.
Auch etwas Ruhe brauche ich. Den Fernseher schalte ich aus, das Leibblatt lege ich beiseite. Manchmal muss man abschalten, um wieder zur Besinnung zu kommen.
Die Eisbären in der Arktis, die Meere, die Regenwälder, die Alpen sind bedroht. Auch die Menschen sind es. Aber die Menschen wissen es am wenigsten, weil sie die Eisbären und die Meere und die Regenwälder und die Alpen gefährden und nicht begreifen, dass sie selber betroffen sind. Was werden die Menschen tun, wenn sie alles aufgefressen haben?
Wir sind im Begriff, die Welt in ein Laboratorium zu verwandeln und uns selber zum Forschungsobjekt unserer eigenen Eliminierung zu machen. Oder wir werden zu Leibeigenen von Monsanto und Pfizer, die unser Mittagessen und unsere Krankheiten patentieren lassen. Ich weiss nicht, ob ich darüber entsetzt sein oder lachen soll. Natürlich bin ich entsetzt, aber das Schauspiel, das sich anbietet, ist so spannend, dass ich den Ausgang auf keinen Fall verpassen möchte.
Heute ist ein prachtvoller Herbsttag. Die Sonne scheint milde. In ein paar Jahren werden die Menschen aus ihren Bunkern kriechen müssen, um so etwas zu erleben, und dann werden sie nicht glauben, was sie sehen, wie in Platons Höhlengleichnis.
Wir haben konsequent alles richig gemacht. Das ist das Fatale. Der Erfolg bringt uns am Ende um.
Morgen soll das Wetter umschlagen. Bald kommen die Herbststürme. Das ist eine Zeit der Jubilation. Die Natur kommt immer an ihr Ziel. Sie ist auf den Menschen nicht angewiesen oder bedient sich seines zu ihrem Zweck. Die Elemente toben, der Mensch wird fortgespült, und was bleibt, ist ein Schutthaufen, auf dem neues Leben spriesst.
Wenn ich sehe, wie das Gras den Asphalt aufbricht, bin ich beruhigt, und nichts kann mich noch erschüttern.
3. Oktober 2005