Zum Streitwort "westliche Werte"
Im Verlauf von Jahrhunderten und im Wechsel von Krisen und Blütezeiten haben die Menschen in Europa eine Kultur, eine Philosophie, eine Gesellschaftsform hervorgebracht. In anderen Teilen der Erde ist das Gleiche geschehen. Auch dort haben die Menschen bestimmte Denkweisen, Normen, Identitäten entwickelt, die sich von den unseren unterscheiden. Dabei sind die einen weder besser noch schlechter als die anderen.
Was die westlichen Werte ausmacht, sind unter anderem der Geist der Kritik und des Widerspruchs, die Aufklärung, Laizität, Demokratie, verfasste Individualrechte. Zusammen haben diese Kategorien der europäischen Kultur ein unverkennbares Profil verliehen.
Diese westlichen Wertvorstellungen sind heute auf eine schwer verständliche Weise in Verruf geraten. Mit ihnen kann eine verwöhnte, arglos gewordene Gesellschaft nicht mehr viel anfangen, es geht auch ohne sie. Republikanischer Geist und Zivilverhalten haben ihre Bedeutung verloren, an ihre Stelle sind eine Börsen- und Disco-Mentalität und der Rückzug in das Wohlbefinden der individuellen Erlösung getreten. In der unter dem Diktat der Ökonomie globalisierten Welt werden die Singularitäten ausgebügelt.
Aber noch aus einem weiteren Grund sind unsere Werte und Begriffe ins Zwielicht geraten. Im Zeitalter der multikulturellen Naivität und Beliebigkeit scheint die Besinnung auf eine eigene Kultur und Herkunft heute fast ein Sakrileg.
Kürzlich habe ich das Protokoll einer Diskussion gelesen, in der die Teilnehmer, anerkannte Geisteswissenschafter, davor warnten, Europa mit bestimmten Werten und Traditionen gleichzusetzen. Erstens, weil Europa nichts Einheitliches ist, sondern eine heterogene Vielfalt bilde, und zweitens, weil die Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen einer flagranten Anmassung gleichkomme.
Was die Vielfalt betrifft, beruht sie auf einer gemeinsamen Grundlage, es ist eine konsensuelle Vielfalt. Zum Einwand der Abgrenzung fällt mir aus Beobachtung und Vergleich nur ein, dass die Menschen in anderen Teilen der Welt keine besondere Mühe haben, auf ihren Ideen, Werten und Vorstellungen zu bestehen und sie im Unterschied zu anderen zu bewahren. Zum Beispiel im Islam oder in China, bei den Kurden oder Inuit. Sie alle verteidigen, auch in einer sich schnell wandelnden und progressiv auflösenden gesellschaftlichen Realität, was zu ihrer Identität gehört oder beiträgt.
Ich würde sogar sagen, dass sie recht damit haben. Alle Menschen brauchen einen Ort, um sich zu orientieren. Der lokale Fussballclub wird es nicht richten können, so wenig wie die bevorzugte Aftershave- oder Deodorantmarke. Auch das multikulturelle Durcheinander gibt keinen Halt, es läuft höchstens auf eine Selbstpreisgabe hinaus.
Umso mehr haben wir allen Grund, selbstbewusst an den historischen Errungenschaften festzuhalten. Es ist unser Beitrag an die Diversität der Welt, so wie die anderen Völker und Kulturen ihren Teil auf ihre Art leisten.
Die Vielfalt der Welt setzt den distinkten, das heisst ausgeprägten, jedoch niemals dominierenden Anteil aller Kulturen und Identitäten voraus. Dass diese Verschiedenheit ohne Abgrenzung unmöglich ist, liegt in der Natur der Sache.
23. Januar 2006
"Eine offene Gesellschaft muss immer wieder neu erkämpft werden"
Ja, was sind sie, diese "westlichen Werte"? Aurel Schmidt beschreibt den Wechsel von Krisen und Blütenzeiten über die Jahrhunderte. Ein Blick in die Geschichte lohnt sich tatsächlich. Die meisten westlichen Demokratien beriefen sich bei ihrer Gründung ja auf die republikanischen Traditionen des Römischen Reichs. Die tatsächlich vorhandenen demokratischen Ansätze sowie eine zeitweise kulturell-religiös-ethisch erstaunlich offene und vielfältige Gesellschaft mussten damals letztlich den Interessen militärischer Grossmachtpolitik weichen. Aus dem obligatorischen Caesarenkult entwickelte sich schliesslich das Europa der angeblich gottgewollten Monarchien und der staatlich vorgeschriebenen Einheitsreligion (nur nebenbei: Noch immer sitzt ein "römischen Kaiser" im Vatikan).
In der jüngeren Geschichte brachten bekanntlich neue europäische Kaiser und Diktatoren die ganze Welt an den Rand des Zusammenbruchs. "Westliche Werte" hat wohl viel mit dem historischen Bewusstsein zu tun, dass eine offene, demokratische Gesellschaft immer wieder neu erkämpft, gelebt und rechtlich abgesichert werden muss. Menschen, denen dies nicht passt, wird es immer geben und zwar unabhängig von Geburtsort und Herkunft. Chancengleichheit, demokratische Mitbestimmungen, sozialer Ausgleich und die aktive Integration aller Bevölkerungskreise sind die besten Mittel, um offene und demokratische Gesellschaften aufzubauen und zu erhalten. So verstandene Werte finden mit Sicherheit nicht nur "westlich" oder "nördlich", sondern auch "südlich" und "östlich" Unterstützung."
Peter Jossi, Basel
"Ich bin zuversichtlicher als Herr Schmidt"
Den Denk- und vor allem Fühl-Ansatz von Aurel Schmidt kann man schnell teilen. Aber er sagt uns wenig darüber, wie diese Werte-Verteidigung denn jetzt zu machen wäre. Da wäre ja doch auch eine praktische Seite, die offenbar neu anzugehen ist. Ob politisch (Integrationsgesetze etc.) oder einfach mal persönlich.
Was ich aber vor allem vermisse in Schmidtscher Klage ist die Wahrnehmung des allergrössten Wertes europäischer Kultur und seiner Überlegenheit: Der Offenheit gegenüber Anderen. (Und der Bereicherung dadurch, geben wir es zu.) In diesem Geist haben wir früher kolonialisiert, heute sind wir konstruktiver unterwegs.
Bei allem Ärger und all der Angst, die wir darüber empfinden, wenn Lebensumstände morgen anders zu sein drohen als gestern, dürfen wir eins nicht vergessen: Den grössten Frust bereiten uns die eigenen Leute. Die grössten Skandale, die unser Schweiz-Bild erschüttern und manche Werte in Frage stellen, sind alle hausgemacht. (Spasseshalber ein paar Stichworte: Seveso, Fichen, Swissair.) Und die unanständigste politische Kraft hierzulande beruft sich ausgerechnet auf nichts Anderes als das Schweizertum.
Dass wir dieses Jahr einen schwulen, katholischen Polen als höchsten Schweizer gewählt haben, ist bester Ausdruck der Lebenskraft europäischer, fortschrittlicher Werte.
Ich bin zuversichtlicher als Herr Schmidt. Ich habe weniger Angst vor der Welt als mein Vater vor 60 Jahren. Da waren die Werte dieser Welt mehr durcheinander als heute.
Urs Eberhardt, Basel
"Jede gesunde Mutter schaut zuerst zu ihrem Kind"
Aurel Schmidt schreibt mir aus dem Herzen. Mein Kommentar dazu ist kurz und bündig: Jede gesunde Mutter schaut zuerst zu ihrem Kind! Das verdient auch unser Mutterland, die Schweiz.
Sabina Droll, Hausfrau und Mutter, Gelterkinden
"Ich teile diese Einschätzung uneingeschränkt"
Bevor ich von Japan in meinen Bürgerort Basel retournierte, durfte ich zahlreiche wichtige Regionen dieser Welt kennen lernen. Nicht als Tourist, sondern als bescheiden besoldeter Praktikant in lokalen Firmen. Ich teile Schmidts Einschätzung kraft eigener langjähriger praktischer Erfahrung vor Ort nicht nur uneingeschränkt, sondern möchte, darauf gestützt, der Basler Linken und ihren Derivaten auf Liste 13 dringlichst empfehlen, eine Delegation zu einer integrations- und sozialpolitischen Realitäts-Erkundungstour nach Afrika, Arabien, Australien, Persien, Pakistan, Indien, China, Japan und Korea (Nord- und Süd) zu entsenden. Vorausgesetzt, die Basler Linke besteht nicht gänzlich aus UDSSR-sozialistischen Nostalgikern, so wette ich, dass die genannte Delegation, wenn sie zurückkehrt, Saskia Freis integrations- und sozialpolitischen Postulaten zustimmte - uneingeschränkt!
Patric C. Friedlin, Basel