Ohne Worte
Im Anfang war das Wort. Das Wort ist der Logos, das Gesetz, dem die Welt unterliegt, die unerbittliche, unveränderliche Wahrheit, die Ordnung der Welt. Also die Autorität schlechthin, die keine Abweichung erträgt. Das Ja-Wort ist Einverständnis, Einwilligung, Verpflichtung und kann nicht widerrufen werden. Mit den Worten fangen die Missverständnisse an, aber mit ihnen können sie wieder ausgeräumt werden. Das ist das Paradoxon des Worts.
Heute sind wir im Begriff, uns von der erdrückenden Schwere des Worts, das heisst des Worts in seiner gedruckten und definitiv festgelegten Form, zu befreien. Mit dem Begriff des iconic turn bezeichnen wir die Verlagerung vom Wort zum Bild als Übergang zu einer weitläufigeren Orientierung.
Das Bild ist ein Risiko. Seine Gefährlichkeit liegt wegen seiner offenen Struktur in seiner Beeinflussbarkeit. Daher die Bildverbote in den Religionen. Wo dieses Verbot nicht mehr gilt, üben Bilder ihre flottierende Macht aus, zum Beispiel in der Werbung und den visuellen Medien. Die "geheimen Verführer" von Vance Packard gehen von der Beeinflussung der Wahrnehmung durch operative Bildmanipulationen aus. Beim Actionfilm dominieren die Bilder und geht die Spannung von den rasenden Bildschnitten aus, während der gesprochene Dialog entbehrlich geworden ist. Das Bild von einem Stück unberührter Natur oder von einem Familienausflug mit dem Velo löst in der Werbung eine gezielt eingesetzte Assoziation aus: Ruhe, Glück, Gesundheit.
Während heute die Auswirkungen des Bildes auf die Wahrnehmung und das Denken des Menschen untersucht werden, ist die Entwicklung jedoch schon einen Schritt weiter. Eine neue Generation orientiert sich kaum noch am Wort und fast gar nicht am Bild, dafür zunehmend an der akustischen Information.
Das Handy erlaubt die Kommunikation by voice. Die Lautfolge des gesprochenen Worts setzt sich durch, wie das neue Phänomen der Hörbücher zeigen. Die gute alte Gutenachtgeschichte lebt wieder auf. Was ich höre, glaube ich. Im übrigen kommt Rest-Konversation heute mühelos nonverbal aus beziehungsweise onomatopoetisch (klangmalerisch, wie im Comic): Heh! Ääääh! Wow! Die Klingelzeichen des Handys haben eine Identifikationsfunktion. Brands stützen sich auf Erkennungsmelodien wie ein Leitmotiv in einer Oper von Richard Wagner ab.
Die phonetische Strukturierung des Alltags erzeugt eine schallende Umgebung, ein geschlossenes Sound-Environment, in dem die Menschen wie Fische im Teich schwimmen. Musik gibt den Takt an. Ohne Muzak in den Kleiderboutiquen läuft gar nix. Musik ist das Kommunikations- und Leitmedium par excellence der Jugend und die Grundlage für das jubelnde, aber sprachlose Zusammenleben in Gruppen und Massen. Openair-Festivals und Disco-Gedränge geben ein Beispiel dafür ab. Gute vibrations erledigen alles, was das Herz begehrt.
Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Die Atomisierung des Menschen. Im Zug sass mir kürzlich ein Jugendlicher mit dem Walkman gegenüber. Ich weiss nicht, ob er schon einen höheren Buddhazustand erlangt hatte oder völlig abgelöscht war und die Direktiven von Big Brother empfing. Die ganze Begriffsmüdigkeit als Folge des Abschieds vom Wort drückte sich in ihm aus.
Was heute erforscht werden müsste, sind die Auswirkungen von Tonfolgen und -kombinationen auf Gehirn, Bewusstsein und neurovegetatives System.
3. März 2008
"Schneller als uns lieb ist"
"Was heute erforscht werden müsste, sind die Auswirkungen von Tonfolgen und -kombinationen auf Gehirn, Bewusstsein und neurovegetatives System." Nun, dies wird wahrscheinlich schneller geschehen als uns lieb ist, aber aus anderen und nicht so ethisch sauberen Gründen.
Bruno Heuberger, Oberwil