Denken heisst, eigene Wege gehen
Wenn wir von westlichen Werten sprechen, meinen wir etwas, das mit der sokratischen Philosophie begonnen hat und darin bestand, Fragen zu stellen. Wer fragt, denkt mehr. Warum ist etwas so, wie ist es, und nicht anders? Was verbirgt sich hinter den Erscheinungen der Welt, was bedeuten sie? Was könnte oder müsste anders sein?
Durch diese Art des Vorgehens wird der Geist in Unruhe und Bewegung gesetzt. Hinterfragen heisst der Weg, den Sokrates vorgezeichnet hat.
Nichts ist ein für allemal entschieden oder abgeschlossen. Es gibt Alternativen, und es ist nicht verboten zu experimentieren, auch wenn dabei Fehler unterlaufen. Wenn sich ein Irrtum erwiesen hat, wird es das nächste Mal besser gemacht. Das ist vernünftig. Die Vernunft ist fähig, begangene Fehler zu korrigieren, die Unvernunft nicht. Mit Goya an die schlafenden Ungeheuer der Vernunft zu erinnern ist ein Standpunkt, der grandios übersieht, dass es sich dabei in Wirklichkeit um Ungeheuer der Unvernunft handelt. Den Unterschied zwischen kritischer Vernunft und unkritischer Unvernunft zu machen ist ein Zeichen differenzierten und aufgeklärten Denkens, das sich selbst aufklärt.
Dieses Denken muss sich in jedem Augenblick vor sich selbst rechtfertigen. Es ist selbständig und selbstverantwortlich und kann sich auf keine höhere Autorität berufen. Es gibt keine Gewissheit, und die Welt wird jeden Tag neu in Frage gestellt.
Im Unterschied dazu stellt der Glaube keine Fragen, der Kanon der Antworten und Lehren steht zur Befolgung längst bereit. Gläubige müssten sich, wenn sie denken würden, die Frage stellen: Gibt es vielleicht keinen Gott? Aber dann wären sie keine Gläubigen mehr. Das ist ihr Dilemma. Gott ist nicht falsifizierbar, deshalb können sich die Gläubigen nie irren. Die göttliche Wahrheit ist unumstösslich, der Mut zum Irrtum daher ausgeschlossen, ebenso die Entscheidung, etwas anderes zu denken. Jede Abweichung ist ein Verstoss, jedes Vergehen muss sanktioniert werden. Was bisher gegolten hat, gilt auch in Zukunft, buchstabengetreu, ohne Abstriche. Etwas anderes wäre Irrlehre, Ketzerei, Verrat, Abfall vom Glauben, der nur der richtige sein kann. Massgebend sind die Überlieferung, die Tradition, das Wort, die Schrift, das Dogma, das Ewige Gesetz, die Offenbarung, die längst Verstorbene gehabt haben, mithin das, was andere verkündet, gepredigt und entschieden haben, jedoch niemals die eigene Erfahrung oder Erkenntnis.
Wenn die Gläubigkeit über den individellen Bekenntnisrahmen hinausgeht, tendiert sie zu einer unfehlbaren Einstellung und nimmt, um sich in der Öffentlichkeit zu behaupten, fundamentalistische Formen an. Entsprechend beklemmend sieht der Zustand der Welt heute aus.
Das Fragen und Suchen ist eine einsame Haltung. Sie lehnt es ab, dass es nur einen einzigen richtigen Weg geben soll. In einer Welt, in der das Wissen Ausmasse angenommen hat, wie es der Fall ist, und jeden Tag neue Probleme auftauchen, für die eine Lösung gefunden werden muss, liegt in der Trial-and-error-Methode die vielversprechendsten Aussichten.
16. Dezember 2007
"Die Kirche ist besser als ihr Ruf"
Die katholische Kirche steckt im Augenblick mitten in der Versuchung eines milden Fundamentalismus. Die Geschichte nach dem 2. Vatikanischen Konzil konnte unter dem Stichwort Rückzug hinter die Mauern der "Wahrheit" geschrieben werden. Dennoch bleibt wahr, dass in jenem Konzil ein radikaler Paradigmenwechsel vollzogen wurde. Die katholische Kirche hat die von ihr bis dato bekämpfte Religionsfreiheit als ein unveräusserliches Menschenrecht anerkannt. Sie hat dieses Recht aus dem Innern ihrer eigenen Lehre heraus begründet. Das bleibt epochal bedeutsam. Deshalb kann der Kern der Erklärung des Konzils nicht genug wiederholt werden. Die Kirche ist besser als ihr Ruf und als die, die aktuell ihren Ruf prägen.
"Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen - innerhalb der gebührenden Grenzen - nach seinem Gewissen zu handeln.
Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird. Weil die Menschen Personen sind, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und damit auch zu persönlicher Verantwortung erhoben, werden alle - ihrer Würde gemäss - von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen.
Der Mensch vermag aber dieser Verpflichtung auf die seinem eigenen Wesen entsprechende Weise nicht nachzukommen, wenn er nicht im Genuss der inneren, psychologischen Freiheit und zugleich der Freiheit von äusserem Zwang steht. Demnach ist das Recht auf religiöse Freiheit nicht in einer subjektiven Verfassung der Person, sondern in ihrem Wesen selbst begründet. So bleibt das Recht auf religiöse Freiheit auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen, und ihre Ausübung darf nicht gehemmt werden, wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt".
Xaver Pfister, Theologe, Basel
"Pflichtlektüre für alle Prediger und alle Segensspender"
Wir werden in den nächsten Tagen viele Weihnachtsartikel zu lesen bekommen, welche das Loblied auf "Glauben" nebst der Beschwörung vom "Kind in der Krippe" oder gar auf das "Festhalten an unseren christlichen Werten" singen werden - nachdem alle Kassen genügend geklingelt haben dürften. Ich finde es phänomenal, wie sich "Glauben" in unseren Breitengraden mit Kitsch und Verlogenheit verbündet, um ein Lebensgefühl zu erzeugen, welches die sogenannten ökonomischen Wachstumsprognosen wenigstens auf ein Datum hin als realen Parameter gesellschaftlichen Lebens erscheinen lässt.
Im Ernst: Man sollte gerade an Weihnachten diesen kurzen Text von Aurel Schmidt zur Pflichtlektüre für alle Prediger und alle Segensspender machen.
Alois-Karl Hürlimann, Berlin