Zu fragen ist wichtiger als Antworten zu geben
Die Welt, die nach dem Satz eines grossen Denkers alles ist, "was der Fall ist", nimmt ihren repetitiven Galopp. Wir lernen, was wir von den Vorläufern gelernt haben, die es selbst von denen übernommen haben, die ihnen vorausgegangen sind, den Eltern, Lehrern, Vorbildern, Vordenkern, Vorbetern. Die Religion, die Werbung, das Leibblatt, die Freunde bei Facebook, der Bericht der Börsenanalysten und bald die Künstliche Intelligenz setzen das gestreamte Denken in Gang und verstärkten und blockieren es zugleich. "Ich habe keine eigene Meinung. Bei jeder meiner Meinungen weiss ich, woher ich sie habe", sagt mit seiner unnachahmlichen Ironie der Schriftsteller Martin Walser. Denn die eigene Überzeugung ist oft nichts anderes als ein informationstheoretisches Rauschen.
Abweichungen von der allgemeinen Meinung sind so selten wie neue, originäre Ideen. Was hundert Menschen sagen, muss richtig sein, der Einzelgänger kommt dagegen nicht an. Putin ist ..., der Islam ist ..., die Exportpreise sind ..., wir sind ... und so weiter. Und schon hat sich die integrierte Meinungsmacht installiert.
Die Frage stellt sich daher, wie sich bessere Ideen durchsetzen; wie das Neue in die Welt kommt und sie verändert; was den Fortschritt motiviert.
Wenn es überhaupt einen Fortschritt gibt, dann ist er stets aus dem Widerstreit der alten, beharrlichen, verhockten, so genannten alternativlosen Meinungen und den neuen, nachdrängenden Ideen hervorgegangen. Wenn das Alte sich verbraucht hat, kann es deletet werden, erst dann. Aber dann definitiv.
Die Wissenschaft geht radikaler vor, auch wenn es bei Galileo Galilei etwas länger gedauert hat. Fakten sind einfach zu falsifizieren. Im gewöhnlichen Alltag ist das schwieriger. Die eingespielten, liebgewonnenen Überzeugungen und Gewohnheiten besitzen ein hohes Bequemlichkeitspotenzial, weil die Möbel nicht jeden Monat umgestellt werden müssen.
"Warum ist etwas so, wie es ist,
und nicht anders?"
Noch einmal: Wie kommt das Neue in die Welt? Warum bewegt sich trotz aller Hindernisse trotzdem etwas? Friedrich Nietzsche wollte herausfinden, wie die Dinge aussehen, wann man sie umkehrt. Man könnte darin eine "proof by opposition" sehen. Das scheint eine vielversprechende Methode, aber nicht die einzige zu sein.
Der englische Philosoph der frühen bürgerlichen Gesellschaft John Locke führte die Anregung für einen Wandel auf ein Unbehagen ("uneasiness") zurück, ähnlich wie der französische Sensualist Etienne Bonnot de Condillac, der an eine innere Unruhe ("inquiétude") dachte. Wenn die Lage, in der sich der Mensch befindet, zu unerträglich geworden ist und die Widersprüche sich nicht länger retouchieren lassen, gibt es keinen anderen Weg mehr, als die Situation zu ändern.
Als weiterer wichtiger Grund stellt sich der Konkurrenzdruck heraus, von dem der Kulturhistoriker Norbert Elias gesprochen hat. Viele andere Denker und Autoren haben etwas Vergleichbares angenommen, so der deutsche Soziologe Georg Simmel, der von einem "Distinktionsbedürfnis" sprach, vom Wunsch nach Unterscheidung. Nebenbei bemerkt, ist Konkurrenzdruck ein massgeblicher Antrieb in Charles Darwins Evolutionslehre.
Dass der Mensch ein Konkurrent ist, also ein Läufer beziehungsweise Mitläufer auf dem gemeinsamen Parcours, darauf hat der französische Dromologe (Geschwindigkeitstheoretiker) Paul Virilio aufmerksam gemacht. Wer schneller läuft als die anderen, kommt eher ans Ziel und wird als Sieger proklamiert. In diesem Sinn spricht der deutsche Soziologe Hartmut Rosa von einer "Verpassungsangst", die die Menschen veranlasst, sich durch Beschleunigung einen Vorteil zu verschaffen. Die akzelerierte Innovation in der Telekommunikations-Branche scheint diesem Gedanken recht zu geben. Wohin sie am Ende führen wird, ist allerdings eine andere Frage.
Ganz andere Gedanken hat sich der grosse französische Philosoph Blaise Pascal über das Thema gemacht. Das Elend der Menschen, ohne existentielle Sicherheit oder Beständigkeit auskommen zu müssen, treibt sie in die Verzweiflung, vor der sie sich durch Zerstreuung zu retten versuchen. Genau diese Ablenkung macht alles schlimmer und hält den Menschen davon ab, über seine Lage, seine Bestimmung, sein Leben Klarheit zu gewinnen. Aus dem Umkehrschluss kann mühelos die dringende Notwendigkeit abgeleitet werden, einen neuen Anfang zu unternehmen.
Für den französischen Aufklärer Denis Diderot waren es übrigens Skepsis und sogar Ungläubigkeit ("incrédulité", im religiösen Sinn), die den Denkenprozess in Gang setzen.
Nicht zuletzt müsste Neugierde als Erneuerungsmotor genannt werden, der Wunsch, mehr zu wissen und zu diesem Zweck das Bestehende in Zweifel zu ziehen. Warum ist etwas so, wie es ist, und nicht anders?
An Antworten herrscht kein Mangel. Vor allen anderen Mitmachenden die richtigen, relevanten, umwälzenden Fragen zu erkennen und zu stellen, darauf kommt es entscheidend an.
29. Dezember 2014