Poster auf Social Media
Ich bin eine Posterin. Keine Influencerin, denn ich filme mich nicht dabei, wie ich meine Lippen ins Staubsaugerrohr halte, um auszusehen wie gewisse Silikon-Damen. Ich poste Bilder und Texte. Dazu kam es im Jahre des Herrn 2020, es war Pandemie. Politik war für mich Schnee von gestern, denn 2017 hatte ich mir die Schweissperlen von der Stirn gewischt und das Parteipräsidium abgegeben.
Der Angstschweiss bildete sich 2020 wieder, nicht wegen Covid, sondern wegen der Partei-Obersten. Jemand müsse in Grossbasel West den Wahlkampf aufgleisen, und dieser Jemand sei ich. Sie fuhren Charmeoffensiven und Drohkulissen hoch, und schliesslich gab ich nach.
Doch dann war guter Rat teuer, denn alles war verboten: physische Anlässe, Podien, Stammtische, Bierrunden, Steh-Apéros und Sitz-Dinners. Ich musste ein Home-Office einrichten, Zoom begreifen lernen, Online-Mitgliederversammlungen organisieren. Es folgten Zoom-Vorstandssitzungen im Stil von "Ton geht nicht, Kamera geht nicht, Marcel hat sich noch nicht eingeloggt, Helen ist nur noch schwarz". Dann Sitzungen in Affenkälte irgendwo draussen im Regen mit Maske, planloses Planen und Improvisieren ohne Ende.
Viel Geld war auch nicht da, unsere Parteifarbe ist schliesslich orange, nicht rot.
Keiner hatte gelernt, unter solchen Umständen Wahlkampf zu machen. Viel Geld war auch nicht da, unsere Parteifarbe ist schliesslich orange, nicht rot.
Bref, ich wurde zur Posterin. Kostete nichts, und die Wählenden konnten sich von unserer Partei ein Bild machen. Wir verloren keinen Sitz und – Überraschung – ich wurde gewählt. Und seither bin ich Posterin, meine Arbeitgebenden sind die Wählenden, sie haben ein Recht darauf zu wissen, wer ich bin und was ich denke.
Ich lese auch Posts. Am erstaunlichsten sind die geteilten Posts. Irgendjemand verbreitet ein Bild eines vermissten Tieres, und in Windeseile wird das tausendfach geteilt. Mitleid erregende Themen werden umgehend geteilt, unbesehen verbreitet.
Erstaunlich ist, dass dabei offensichtlich keiner die Autoren der Originalposts überprüft. Tut man das, findet man unzählige Posts ähnlicher Machart, die ganz offensichtlich Fake oder veraltet sind. Nichts gegen die Verbreitung einer aktuellen, offiziellen Meldung, aber es kursieren unzählige Posts ohne den geringsten Wahrheitsgehalt.
Es werden Menschen angeprangert und abstruse Behauptungen aufgestellt. Der dümmste, unzählige Male geteilte Post der letzten Zeit betraf wohl die Forderung, dass die Rente steuerfrei zu sein habe, sie sei schliesslich schon versteuert. Wer dies gepostet hat, versteuert oder versteuerte wohl nicht den Nettolohn, nach Abzug der Beiträge an AHV und BVG.
Die Pandemie und mit ihr die Impffrage haben etwas in Gang gesetzt, was heute kaum mehr zu bändigen ist. Es gab schon vorher Fake News, Trump lässt grüssen. Aber dass so leichtfertig derart bedenklich dämliche, ja gefährlich falsche Aussagen weiterverbreitet werden, ist neu.
Es ist eine unglaubliche Hemmungslosigkeit entstanden, emotional aufgeladene Forderungen, Beschimpfungen und Behauptungen zu verbreiten.
Dies zum reinen Zweck der Frustbewältigung, aus Wichtigtuerei, Gedankenlosigkeit. Es wird ein Feindbild kreiert, und dem gibt man es dann so richtig. Obwohl da kein Feind ist.
Die Wahrheit wird verdreht, Falschbehauptungen sind an der Tagesordnung.
Vielleicht ist die Forderung, wie die der Rente, einfach nur strohdumm. Vielleicht aber auch gefährlich, weil sie ein Klima von Aggressionen schafft, etwa, wenn die Behauptung kursiert, ein Asylbewerber würde mehr Geld erhalten als ein Rentner. Stimmt nicht, was jeder überprüfen könnte. Das wird nicht getan, denn man dürstet nach jemandem, dem die Schuld am eigenen Unvermögen in die Schuhe geschoben werden kann, und da kommt der Asylbewerber wie gerufen.
Wenn es nur Social Media wäre. Immer mehr Institutionen, Parteien, Regierende oder Geschäfte schrecken nicht mehr vor Manipulationen zurück. Die Wahrheit wird verdreht, Falschbehauptungen sind an der Tagesordnung. Medienprofis schreiben Geschäftsberichte, Kommunikationsprofis machen Mitteilungen, und die Überprüfung, was denn nun stimmt, nimmt Zeit in Anspruch.
Wir sollten sie uns nehmen. Wenn nicht, sind wir nichts als eine tumbe Masse, die kritiklos nachplappert, was ihr an Lügen aufgetischt wird. Das wäre das Ende der direkten Demokratie, das Land wäre nicht mehr regierbar. Wir sind auf dem Weg dahin.
Werden Sie also zur Posterin von True News, authentischer Information. Sie dürfen sich auch dabei filmen, wie sie sich selbst die Augenbrauen tätowieren. Aber teilen Sie bitte nichts, was Sie nicht geprüft haben, gar nichts. Jedenfalls nicht in den sozialen Medien.
17. Juni 2024
"Wahrheit ist gar nicht mehr relevant"
Hervorragend. Richtig beobachtet. Das Problem besteht meines Erachtens darin, dass viele Menschen keine Anhaltspunkte mehr haben, wie sie Fake News einstufen sollen. Googeln sie uninformiert oder durch Telegram informiert, besteht die Gefahr, dass sie unqualifizierten Informationen aufsitzen.
Ich habe einen Bekannten in Deutschland, der in katastrophalen Verhältnissen aufgewachsen ist und ein gewisses Frustpotenzial hat. Er verdammt alle Medien, Zeitungen, Fernsehen etc. Mir sendete er jeweils während und nach Corona eigentümliche Nachrichten (neben Verschwörungstheorien von der Macht einzelner, die die Welt an sich reissen). Er zeigte auch totale Resistenz gegen jegliche Art von Fakten, die nachweislich viele solche Theorien widerlegen. Nach dem Motto: Woher weisst du denn das? Wieso sollte deine Ansicht richtig sein?
Es deutet viel darauf hin, dass der Populismus, wie er von Trump und Co. verbreitet wird, unheimlich viele Unterstützer hat. Die Wahrheit ist für solche Parteimitglieder oder einzelne Menschen gar nicht mehr relevant. Und selbst wenn viele von ihnen wissen, was die Wahrheit ist – es ist ihnen egal. Sie leben, denken und lenken nur in ihrem eigenen Kosmos. Das ist weltweit die grösste Herausforderung für die Demokratie.
Jürg Jung, Riehen
"Von Zerstörungswut geprägt"
Nach meiner oft zermürbenden Erfahrung gibt es in der real existierenden, hoch "zuvielisierten" Gesellschaft sowie in der von Links über die Mitte bis nach Rechts real praktizierten Politik erstens die Dummen: Sie wissen nicht was (sie) tun. Zweitens die Gleichgültigen: Sie tun nichts. Drittens die Schlauen: Sie tun nur, was ihnen selber nützt. Viertens die Gemeinen: Sie hauen dafür die andern in die Pfanne.
Sogenannte Fake News gehören dabei zu einer Welt, die von (Geld-)Gier, Herrsch- und Vergnügungssucht sowie von Zerstörungswut geprägt ist. Und wenn die Dummen, Gleichgültigen, Schlauen und Gemeinen zusammen die Mehrheit bilden, dann wird es für und in der Demokratie schwierig bis unmöglich, eine kollektive Intelligenz zu stärken, die zu für alle und alles umfassend tragfähigen Entscheidungen führen und sie gemeinsam tragen kann. Dafür braucht es grundsätzlich eine ganz andere Politik.
Ueli Keller, Allschwil