© Fotos by Ruedi Suter, OnlineReports; Trude Lang
"Beschränkte Erlebniswelt": Goma, 17. September 2009, 14.45 Uhr
Eine Basler Gorilla-Diva mit Weltruhm wird 50 Jahre alt
Die rührende Geschichte "Gomas" mahnt auch an die blutige Ausrottung der Gorillas in Afrika
Von Ruedi Suter
Ein frisch geborenes Gorillakind schaffte es vor einem halben Jahrhundert, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Basel zu ziehen. Goma, der erste in Europa geborene Gorilla, entzückte alle. Am Mittwoch wird im Basler Zoo die unterdessen bejahrte Menschenäffin gefeiert. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt alt Zoodirektor Ernst M. Lang. Er und seine Familie zogen Klein-Goma daheim in der guten Stube auf - auch das eine Premiere.
Verknittert und winzig sah es aus, das Gorillababy mit den grossen, glänzenden Äuglein, den zünftigen Nasenlöchern, dem breiten Mäulchen und dem hellrosafarbenen Gesichtchen unter der schwarzen Kappe aus feinen Haaren. Mit spindeldürren Ärmchen lag es im dichten Pelz von Achilla, seiner Mutter. Das war vor exakt 50 Jahren, am 23. September 1959, im Basler Zoo.
Allein seine Geburt machte das Äffchen berühmt: Es war das erste Gorillakind, das in Europa in einem Zoo zur Welt gebracht wurde. Und hätte nicht drei Jahre zuvor Artgenosse Colo in Columbus (Ohio, USA) das Licht der Welt erblickt, wäre das Basler Menschenaffenkind gar der erste in Gefangenschaft geborene Gorilla gewesen. Basels jüngste und zweifellos auch haarigste Bürgerin wurde "Goma" getauft. So heisst eine seit Jahren immer wieder umkämpfte Stadt in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) unweit der letzten Zufluchtsstätten der verwandten Berggorillas. "Goma" heisst auf Suaheli aber auch "Freudentanz".
Menschen als Adoptiveltern
Zu diesem hatten die Zooleute aber bereits Stunden nach der Geburt keinen Anlass mehr. Obwohl "Gomas" Papa, der 140 Kilo schwere Steffi, von seiner 70 Kilo leichten Gattin auf Distanz gehalten wurde und diese sich ganz ihrem 1,82 Kilo wiegenden Buschi widmen konnte, verstand es Achilla nicht, ihr bald einmal vor Hunger wimmerndes Kind zu säugen. Ausgerechnet ein Mann musste ihr aus der Patsche helfen - der Tierarzt und damalige Zoodirektor Ernst M. Lang.
Dieser lebt heute, nach jahrzehntelanger Abwesenheit, wieder in Basel - natürlich mit direktem Blick auf den "Zolli", wie der Zoo am Rheinknie genannt wird. Der 95-jährige Mann, der einst mit seinem Kommunikationstalent die Zolli-Tiere wie nachher keiner mehr zum Gesprächsstoff in Öffentlichkeit und Medien machte, erfreut sich heute noch seines exzellenten Gedächtnisses. Besonders, was "Goma" betrifft: "Als sich die Situation nach 36 Stunden nicht geändert hatte, entschlossen wir uns, das wertvolle kleine Wesen in unsere Obhut zu nehmen, um es am Leben zu erhalten." So wurden der 45-jährige Zoodirektor und seine Frau Trude 1959 unverhofft zu geforderten Adoptiveltern eines Affenmädchens.
Die Familie, ein Hort der Horde
Keine Zeitung, kein Radiosender, keine Fernsehstation, die nicht über das Basler Affenbaby berichtet hätte. "Täglich hatten wir bis zu zehn Reporter, Fotografen und Fernsehleute im Haus
", erinnert sich Lang an den Rummel um die wollene Neugeborene, deren Mutter - ein Flachlandgorilla - aus den Urwäldern Westafrikas stammte.
Von überall her trafen Glückwünsche ein, auch von zoologischen Gärten und Tierexperten. Für die heranwachsende "Goma", deren Fortschritte Lang später in einem Bestseller beschrieb, aber gab es Wichtigeres: Sie schleckte Säuglingsnahrung, entdeckte das Gehen und Turnen, tollte in der guten Stube herum, spielte mit dem Haushund, beäugte die Gäste, trieb allerlei Schabernack und fühlte sich bald affenwohl in ihrer "Horde", die das Ehepaar Lang mit ihren Kindern wie selbstverständlich mit einschloss. Kein Wunder, dass dann auch alles gemeinsam unternommen werden musste.
Gorilla auf dem Gotthard
So fuhr die "Horde" im Familienauto über den Gotthard an den Langensee in die Ferien. Auf der Rückreise bestritt "Goma", schon ganz Star, im Zürcher Studio des Schweizer Fernsehens noch rasch eine Life Show. Doch nicht nur die Medien, auch die Forscher waren am jungen Gorillaweibchen interessiert. Es wurde scharf beobachtet, am intensivsten von Ziehvater Ernst Lang und dem Basler Zoologen Rudolf Schenkel.
Die Tierspezialisten, die es später beide - vielleicht auch ein bisschen wegen "Goma" - zur Professorenwürde brachten, registrierten jeden Laut, jede Bewegung, jede Wachstums- und Verhaltensänderung, um sie in wissenschaftlichen Publikationen wie der "Documenta Geigy und im populären Buch "'Goma', das Gorillakind" zu veröffentlichen. Es sind Beobachtungen, die in die Geschichte eingingen. Denn eine derart akribische Bestandesaufnahme von der Entwicklung eines jungen Menschenaffen hatte es zuvor noch nie gegeben.
Pepe, Jambo, Tamtam
Das herzige Gorillamädchen, immer zu einem Streich aufgelegt, wuchs seinen Zieheltern an Herz. Es unterschied sich zu Beginn in seinem Verhalten kaum von einem Menschenkind. Doch nach rund einem Jahr und bevor es den Adoptiveltern über den Kopf wuchs, kam die unvermeidbare Trennung. "Goma" musste vom Direktorenhaus am Pelikanweg zu ihrer Familie in das ein paar Lianenschwünge entfernte Affenhaus zügeln. Dort traf sie auf den aus Kamerun geholten Altersgenossen Pepe – ein guter Kamerad, der zwar nie ein Liebhaber werden sollte, ihr jedoch den Anschluss an die Gorillafamilie erleichterte.
"Gomas" Mutter Achilla hatte unterdessen kapiert, wie Kinder aufgezogen werden müssen. 1961 gebar sie "Goma" einen Bruder. Jambo verguckte sich später etwas allzu fest in seine Schwester, und so erblickte am 2. Mai 1971 Tamtam, der gemeinsame Sohn, das Licht des Basler Affenhauses. Auch Tamtam machte Schlagzeilen: Er war der erste Gorilla in zweiter Zoogeneration. Und er war das erste Gorillababy, das in einem Zoo von Beginn an mit einem Silberrücken aufwuchs. Dass "Goma" ihren Sohn mühelos aufzog, führt Ernst Lang auf ihre Lernfähigkeit zurück: "Sie sah es den anderen Müttern ab. Das ist nicht angeboren, das muss gelernt werden." Für "Goma" aber blieb Tamtam ihr erstes und letztes Kind. Weshalb, bleibt ein Rätsel.
Ergreifendes Wiedersehen
Das genaue Beobachten der Menschenaffen wurde am Zolli auch nach dem Weggang Ernst Langs weitergeführt. Später wurde "Goma" vom Primatenforscher
und Zolli-Fotografen Jörg Hess begleitet. Er charakterisierte "Goma" an ihrem 30. Geburtstag so: "Sie ist freundlich, anhänglich und interessiert, aber auch in sich zurückgezogen und manchmal scheu."
Heute, 20 Jahre später, melden die Zolli-Verantwortlichen, "Goma" habe sich "immer mehr ins Familienleben" integriert: "Sie ist, wie es scheint, heute eine zufriedene und fürsorgliche Grossmutter." Ganz verloren hat das einst weltberühmte Gorillaweibchen seine vornehme Zurückhaltung allerdings nicht.
Eine Ausnahme macht es jedoch immer - dann, wenn ihr Ziehvater das Affenhaus betritt. Dieser besucht wenigstens einmal die Woche seine "Stieftochter" im Zoo. Entdeckt die betagte Gorilladame Ernst Lang (Bild, links) im Besucherraum, kommt sie an die Panzerscheibe und begrüsst ihn. Ein ergreifender Moment: Die beiden schauen sich in die Augen und freuen sich. "Ich klopfe ein bisschen ans Glas und mache ein paar Gesten. Und manchmal legt sie sich dann hin", schildert Lang gegenüber OnlineReports das regelmässige Wiedersehen.
Afrika verliert seine Gorillas
Allerdings hat die "Goma"-Story im letzten halben Jahrhundert auch eine tragische Dimension angenommen: Die letzten noch freilebenden Berg- und Flachlandgorillas in Afrika stehen vor ihrer Ausrottung. Von den bedrängten Berggorillas im teils umkämpften Grenzgebiet der DRC, Ugandas und Ruandas leben nur noch schätzungsweise 700 Tiere. Ebenfalls als höchst gefährdet gelten die Westlichen Flachlandgorillas. Ihre Zahl ist wegen der Holzindustrie und der Wilderei vorab für den Fleischbedarf innert drei Generationen um 80 Prozent geschrumpft. Obwohl erst kürzlich in den dichten Wäldern der Republik Kongo (Brazzaville) noch nicht bekannte Populationen entdeckt wurden, wird die Zahl der letzten Westlichen Flachlandgorillas auf zwischen 100'000 und 125'000 Tiere geschätzt.
Weil aber der Druck auf auf Primaten wie Gorillas, Orang Utans und Schimpansen mit Sicherheit weiterhin zunehmen wird, stellen rund um die Uhr bewachte Wildzonen und die für Wildtiere gefängnisartigen Zoos - sie wollen heute lieber "Naturschutzzentren" genannt werden - bald die letzten Überlebenschancen für Menschenaffen und andere bedrohte Tierarten dar. Die Situation der überall bedrängten Wildnis bekümmert den Ziehvater "Gomas" besonders. Denn Professor Lang, von 1953 bis 1978 das vierte "Alphatier" des Zollis, hat während seiner Direktionszeit nicht nur dem Basler Zoologischen Garten ein neues Konzept verpasst, Bücher verfasst und wichtige Forschungsarbeiten über die Biologie der Gorillas, des Panzernashorns, der Brillenbären und Flamingos publiziert, er kennt auch die Lebensumstände und Bedrohungen der Wildtiere in Freiheit.
Wilderei, Abholzung, Siedlungsdruck
Lang war einer der ersten Zoodirektoren, der sich nicht des Tierhandels bediente, sondern Tiere aus aller Welt selbst importierte - "eine Vorgehensweise", die in der Welt der Zoos allgemein üblich wurde", schrieb Claus Hagenbeck, Spross der berühmten Hagenbeck Tierpark-Familie in Hamburg. Und: "Er hat zahlreiche Wildtiere eigenhändig eingefangen, verpackt und transportiert, zu einer Zeit, als das Reisen, selbst mit kleinem Handgepäck, noch überaus beschwerlich war." Diese heute überholte Methode - sie hat dem Zolli auch die noch lebende Elefantenkuh Ruaha beschert - hatte einen Vorteil: Zoodirektoren wie Lang und Bernhard Grzimek erlebten selbst, wie verheerend sich draussen in Savanne, Busch und Urwald Wilderei, industrielle Abholzung und Siedlungsdruck auf die Wildtiere auswirken.
Wie schätzt Ernst Lang die Zukunft der wild lebenden Gorillas ein? Er macht sich- im Gegensatz zu vielen Tier- und Naturschutzorganisationen - keine Illusionen: "Sehr schlecht, so lange es in Afrika keine politische Stabilität gibt." Die Zoos mit ihren Zuchtgruppen könnten den Gorillas allenfalls ein längerfristiges Überleben garantieren, hofft der einstige Züchter und Tierfänger. Das erfordere aber gute Freianlagen und "sehr viel Geld".
Die ewige Platznot des Zollis
Der Zoologische Garten Basel will jetzt bis 2012 eine neue "Erlebniswelt" mit Aussenanlagen für die Menschenaffen bauen. Es soll eines "der aufwändigsten Projekte" überhaupt werden. Die Verantwortlichen unter dem jetzigen Direktor Oliver Pagan geben sich redlich Mühe, "für die Menschenaffen im Zoo Basel ein neues Zeitalter beginnen" zu lassen. Dass aber der Zolli viel zu klein ist und ausgelagert oder grosszügig vergrössert werden müsste, ist ein Thema, das in der Stadt der Milliardäre wegen fehlenden Finanzen und auf Kosten der Wildtiere leider nicht mehr thematisiert wird.
"Goma", ein Leben lang Gefangene, Gepflegte und Beschützte zugleich, wird die neue "Erlebniswelt" für Primaten im Zolli vielleicht nicht mehr erleben. Mit ihren 50 Jahren lebt der betagte Weltstar schon 10 Jahre länger als der Durchschnitt seiner freien Artgenossen. In Menschenalter gerechnet dürfte sie jetzt 100 Jahre alt sein - und damit sogar ihren Ersatzvater Ernst Lang "überholt" haben. Ein Jahr ist es her, dass der Mensch den Affen zum letzten Mal berührte - im Bereich der Anlage, wo nur die Tierwärter Zugang haben: "Ich konnte sie am Rücken kraulen. Das hat sie mit grösstem Wohlgefallen entgegengenommen", freut sich der Professor. Ja, und einmal, habe "Goma" ein Blatt aufgelesen und es ihm in den Mund stecken wollen.
Hätte sie die Freiheit, würde sich die haarige Diva wohl am 16. Oktober auf den Balkon ihres väterlichen Freundes schwingen und mit ihren gescheiten Augen durch die Scheiben gucken. Klar, dass dieser die Fenster augenblicklich aufreissen würde. Für den dann 96-Jährigen gäbe es kein schöneres Geburtstagsgeschenk.
21. September 2009
Weiterführende Links: