© Foto WWF-Canon, Martin Harvey
                
                
                "Hervorragend an die Verhältnisse angepasst": Grüne Meeresschildkröte
                
                
                Meeresschildkröten: Weltweit bedroht
                
Die faszinierenden Urtiere der Meere haben mehr als nur natürliche Feinde
                
                
                Von Matthias Brunner
                
                
                
                Obwohl sich Meeresschildkröten perfekt an ihren Lebensraum angepasst haben, sind sie heute akut vom Aussterben bedroht. Nicht nur Frevler und rücksichtsloser Tourismus sind die Gründe. Auch der jüngste kriegerische Konflikt im Libanon hat verheerende Folgen für diese Urtiere der Meere.
                
                Kaum ist die Eischale gesprungen, schlüpft ein nur gerade 30 Gramm leichtes  Schildkrötchen heraus und wühlt sich mühselig durch den Sand. Hunderte von  schutzlosen Schildkrötenbabys versuchen bei diesem nächtlichen Schauspiel  gleichzeitig, instinktiv so rasch wie möglich das rettende Meer zu erreichen.  Denn nur im Wasser fühlen sich die Meeresschildkröten sicher und in ihrem  Element.
Nach der Geburt lauert Gefahr
Doch bereits der Weg  dahin ist für die frisch geschlüpften Kriechtiere gefahrvoll und gleicht einem  regelrechten Spiessrutenlauf: Schleichkatzen, Reiher, Strandkrabben und andere  Fressfeinde haben nur auf diesen Augenblick gewartet, um sich über die leichte  Beute herzumachen. Für diejenigen Schildkrötchen, die das vermeintlich sichere  Meer erreicht haben, ist die Gefahr indessen noch keineswegs gebannt. Im  seichten Wasser in Küstennähe tummeln sich zahlreiche Raubfische wie Haie und  Muränen, welche die kleinen Paddler bei ihren ersten Schwimmversuchen  überraschen.
So verwundert es nicht, dass nur wenige von ihnen überhaupt  das Erwachsenenalter erreichen. Kaum zu glauben, dass sich aus diesen Winzlingen  500 Kilo schwere und zwei Meter lange Tiere wie die Lederschildkröten  (Dermochelys coriacea) entwickeln können, die als grösste sämtlicher 220  Schildkrötenarten eine eigene Familie darstellen und sogar noch die  Riesenschildkröten auf den Galapagos-Inseln übertreffen. Das grösste je  entdeckte Exemplar einer Lederschildkröte wog 916 Kilogramm und hatte eine  Rumpflänge von 256 Zentimetern.
Geradezu zierlich wirkt daneben die Olive  Bastardschildkröte (Leidochelys olivacea) mit ihrer Panzerlänge von 60 bis 70  Zentimetern und einem Gewicht zwischen 35 und 40 Kilogramm. Sie ist die kleinste  der sechs Arten, welche zur Familie der eigentlichen Meeresschildkröten  zählen.
Hoch angepasste Lebensweise
Im Verlaufe der  Evolution haben sich diese urtümlichen Amphibien über Millionen Jahre  hervorragend an ihren marinen Lebensraum angepasst. Im Unterschied zu ihren  landbewohnenden Verwandten haben sich die Beine der Meeresschildkröten zu  währschaften Paddeln entwickelt. Während sie damit an Land nur mühsam vorwärts  kommen, bewegen sie sich im Wasser äussert gewandt mit bis zu zehn  Stundenkilometern Geschwindigkeit. So können gewisse Arten auf ihrer Wanderung  Tausende von Kilometern hinter sich bringen und ganze Ozeane  durchqueren.
Eine weitere Anpassung an das Meer sind Salzdrüsen an den  Augen, welche eine konzentrierte Salzlösung abgeben und so den Salzgehalt des  Blutes regulieren. Auf ihrer Suche nach Nahrung, die grösstenteils aus Krabben,  Garnelen, Seesternen, Seeigeln, Tintenfischen und Langustinen besteht, halten  sich die Meeresschildkröten vorwiegend in subtropischen und tropischen Regionen  auf.
Einzig die Suppenschildkröte (Chelonia mydas) ernährt sich  hauptsächlich vegetarisch. Sie weidet das Seegras ab, das in Küstennähe auf dem  Meeresboden wächst. Ganz anders ist das Verhalten der gewaltigen  Lederschildkröte: Sie wagt sich auf ihrer Jagd nach Quallen auch in die kälteren  Gefilde des Atlantiks vor. Leider wird ihr diese Lieblingsspeise oft zum  Verhängnis. Offenbar kann sie nämlich nicht zwischen Quallen und Plastikbeuteln  unterscheiden, die immer häufiger auf der Meeresoberfläche schwimmen.  Untersuchungen haben gezeigt, dass rund die Hälfte aller Lederschildkröten  Kunststoffabfälle verschluckt haben. Diese führen zu schweren  Verdauungsstörungen, an denen die Tiere qualvoll verenden  können.
Sonne als Schildkröten-Brüter
Obwohl die  Meeresschildkröten mit dem nassen Element bestens zurechtkommen, unterscheidet  sie etwas grundsätzlich von den übrigen Meeresbewohnern: Je nach Art kehren die  Weibchen etwa alle zwei bis drei Jahre an ihren Geburtsort zurück, um dort ihre  Eier abzulegen: Nach der Paarung schwimmen die Schildkrötenweibchen - meistens  nachts - alle gleichzeitig an die Küste. Die schweren Tiere schleppen sich an  den Strand und schaufeln eine Grube frei, in die sie je nach Art zwischen 50 und  200 weisse, runde Eier legen.
Anschliessend decken sie das Gelege  vorsichtig mit Sand wieder zu, bevor sie sich von der grossen Anstrengung  erschöpft ins Meer zurück gleiten lassen. Den Rest übernimmt die wärmende Sonne,  bevor nach knapp zwei Monaten die Jungen schlüpfen.
Weltweit bedrohte  Bestände
Bisher konnten die Meeresschildkröten einzig durch die Masse  der auf einmal gelegten Eier für den Fortbestand ihrer Spezies sorgen. Die  Fressfeinde allein wären keine echte Bedrohung für eine konstante Population.  Doch seit jeher stellen Menschen den friedlichen Urtieren nach. Ihr Name sagt  schon Düsteres aus: Suppenschildkröten (Chelonia mydas) gelten heute noch bei so  genannten "Feinschmeckern" als besondere Delikatesse.
Einem Aberglauben  zufolge plündern oft Eierdiebe die Nester, da die Eier angeblich die Potenz des  Mannes steigern sollen. Die Echte Karettschildkröte (Eretmochelys imbricata)  wird vor allem wegen ihres besonders schönen Rückenschildes verfolgt, aus dem  das begehrte Schildpatt gewonnen wird. Daraus werden Luxusgüter wie exklusive  Brillengestelle oder Kämme hergestellt. Dabei sind sämtliche Meeresschildkröten  gemäss dem internationalen Washingtoner Artenschutzübereinkommen CITES seit  langem streng geschützt. Alle stehen sie auf der Roten Liste und gelten entweder  als "stark gefährdet" oder sogar bereits "vom Aussterben  bedroht".
Meeresschildkröten sind auch Kriegsopfer
Wie  empfindlich das Ökosystem ist, zeigte sich erst Mitte Juli, als israelische  Kampfjets ein Kraftwerk am südlichen Rand von Beirut bombardierten. Dabei wurden  Öltanks getroffen, aus denen zwischen 10'000 bis 35'000 Tonnen Öl ausgelaufen  und ein Grossteil davon ins Meer geflossen sein soll. Weite Küstenbereiche bis  nach Syrien seien verschmutzt. Gemäss Angaben von Jörg Feddern von Greenpeace  ist ein kleiner Bestand der Grünen Meeresschildkröte in einem Naturreservat vor  Küste Libanons akut gefährdet. Denn im Juli schlüpften die kleinen  Schildkrötchen. Sollten nicht rasch Massnahmen ergriffen werden, wären auch die  Küsten von Zypern, der Türkei und Griechenland vom Ölteppich  bedroht.
Neben der ungebremsten Verschmutzung der Weltmeere dezimieren  die nur schwer einzudämmende Wilderei und der industrielle Fischfang die  Bestände trotzdem weiter. Schätzungsweise 250'000 Tiere verenden nach Angaben  des WWF als unerwünschter Beifang in den Netzen der schwimmenden Fischfabriken.  Eine weitere Bedrohung bildet die Tourismusindustrie, welche die Strände mit  riesigen Hotelburgen verbaut. Dadurch gehen wichtige Nistorte der  Meeresschildkröten für immer verloren.
Nachhaltige Meeresnutzung ist  dringend
Naturschutzorganisationen wie der WWF haben diese  alarmierende Situation schon längst erkannt. Gemeinsam mit der  Weltnaturschutzunion IUCN hat der WWF das Artenschutzprogramm TRAFFIC ins Leben  gerufen. Mit diesem sollen der internationale Handel mit Produkten aus  Meeresschildkröten überwacht und Regierungen davon überzeugt werden, den Schutz  zu verbessern. Ein Mittel dazu ist auch die Förderung des  Öko-Tourismus.
Ebenso wichtig ist der Einbezug der lokalen Bevölkerung.  So hat beispielsweise der WWF 1995 in Kiunga an der nördlichen Küste von Kenia  ein Projekt lanciert, das die nachhaltige Nutzung des Meeres zum Ziel hat.  Inzwischen sammeln Einheimische den angeschwemmten Abfall ein und fertigen  daraus Souvenirs für Touristen an. Männer aus den umliegenden Dörfern überwachen  und kartieren im Auftrag des WWF die Nester und beschützen die frisch  geschlüpften Meeresschildkröten auf ihrem Weg zum Meer.
Ehemalige  Basler Studenten wurden aktiv
Doch auch kleinere Organisationen  setzen sich für die Erhaltung der Meeresschildkröten ein. Ein paar ehemalige  Studenten der Universität Basel gründeten den Verein Tortugas und konnten bisher  100'000 kleine Schildkröten an der pazifischen Küste von Mexiko  retten.
Seit dem Jahr 2002 reisen freiwillige Helfer jeden Sommer nach  Mexiko, um die Schildkröten-Eier vor Dieben zu schützen. Mittlerweile können die  Idealisten durch ihre Aufklärungsarbeit auch zumindest auf die Unterstützung  eines Grossteils der einheimischen Bevölkerung zählen. Einige ehemalige  Eierdiebe haben durch das Projekt sogar einen Nebenjob gefunden.
Weitere  Informationen:
www.wwf.de
www.wwf.ch
www.traffic.org
www.tortugas.ch
                12. Oktober 2006
                
                
                
                
                
                
                
                METHUSALEM DER MEERE
                mb. Kein anderes Reptil ist so urtümlich wie die Schildkröte.  Vermutlich vor etwa 225 Millionen Jahren haben sich die Meeresschildkröten von  ihren landbewohnenden Artgenossen getrennt entwickelt. Seither haben sie sich  kaum mehr verändert. Im Unterschied zu den Landschildkröten können die  Meeresschildkröten ihren Kopf nicht vollständig in den Panzer zurückziehen. Ihre  Beine sind zu eigentlichen Paddeln geworden, mit welchen sie besser schwimmen  können. Ihr Panzer ist abgeflacht und stromlinienförmig.
Ebenso  rekordverdächtig ist das individuelle Lebensalter, welches Schildkröten  erreichen können. Bei den Meeresschildkröten geht man davon aus, dass sie  mindestens 50 Jahre alt werden können. Im Zoo von Kalkutta ist eine  Riesenschildkröte angeblich erst mit 255 Jahren gestorben. Schriftlich belegt  sind zumindest ihre 131 letzten Lebensjahre.