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                "Müssen zusehen, wie ihre Lebensgrundlage stirbt": Bedrohte Indianer
                
                
                Bei den Waldvölkern wüten jeden Tag technische Orkane
                
Die Konsumgesellschaft entlarvt sich als Totengräberin der Waldvölker
                
                
                Von Ruedi Suter
                
                
                
                Der Orkan "Lothar" ging der Schweizer Bevölkerung auch deshalb ans Gemüt, weil er grosse Flächen Schutzwald bodigte. Diesem Gefühl der Schutzlosigkeit sind die Waldvölker dieser Erde in weit grösserem Umfang ausgesetzt. Ihre für sie lebensnotwendigen Urwälder werden faktisch von den Industriegesellschaften gefällt, ohne dass sie eine Mitsprache hätten.
                
                "Lothar", der Orkan vom Stephanstag 1999, hat in der Schweiz nicht nur  Menschenleben gefordert und Milliardenschäden angerichtet: Er hat der Schweizer  Bevölkerung schlagartig die Bedeutung der von den Sturmböen zerschlissenen  Wälder in Erinnerung gerufen. Selbst Städterinnen und Städter, die kaum mehr je  einen Wald betreten, fühlten sich betroffen, als sie die Bilder von den  Abertausenden, wie Zündhölzer hingeworfenen Bäumen zur Kenntnis nehmen  mussten.
Bergler Adolf Ogi: "Ich rede mit den Bäumen"
Noch  mehr ans Gemüt ging und geht der geknickte Tann - einst wichtiger Nahrungs- und  Materialspender sowie zuverlässiges Versteck der alten Eidgenossen - der  einheimischen Bergbevölkerung. Ihr von Schadstoff-Emmissionen ohnehin schon  angeschlagener Schutzwald gegen Lawinen und Erdrutsche ist jetzt geschwächter  denn je. Auf das Zurückschlagen der Natur reagieren Bergler besonders sensibel.  Dies beweist neuerdings auch ein Bekenntnis des Bundespräsidenten und  Förstersohns Adolf Ogi aus Kandersteg, der sich angesichts der flachliegenden  Wälder im Nachrichtenmagazin "Facts" wie ein Indianer als Baum-Redner outet:  "Ich kenne diese Bäume und rede zu ihnen." Im Orkan "Lothar", so Bergler Ogi,  sehe er eine "Warnung an die Menschheit". Und: "Wir müssen andere Sensibilitäten  entwickeln zu Gunsten der Umwelt." 
Der Wald als Existenzsicherung wird  in der Schweiz auch durch kommende, womöglich menschengemachte Naturkatastrophen  bedroht, warnt ebenfalls Philippe Roch, Direktor des Bundesamtes für  Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal). Doch was die Schweizer Bevölkerung durch  Orkan "Lothar" andeutungsweise erfuhr, erfahren die von ihren Wäldern  vollständig abhängigen Waldvölker dieser Erde tagtäglich. Einziger Unterschied:  Die Wälder der Waldvölker werden mutwillig zerstört -von den Menschen  selber.
Die Konsumierenden entziehen den Waldvölkern die  Lebensgrundlagen
Denn Urwälder, die von den Industriegesellschaften  gefällt werden, begraben fast immer auch Menschen unter sich: Waldnomaden, die  ohne die Früchte des Waldes nicht wirklich überleben können. Wir als Konsumenten  tragen mit unserem Kauf- und Konsumverhalten die Hauptschuld am Untergang der  Waldmenschen. Dies die These eines Urwald-Workshops der  Indianer-Unterstützungsorganisation Incomindios in Zürich. Fazit: Ändern wir  unsere Lebensweise so, dass die Urwälder nicht mehr angetastet werden, zwingen  wir die Holzkonzerne, auf Sekundärwälder auszuweichen und eine nachhaltige  Forstwirtschaft zu betreiben, retten wir die besten Waldspezialisten der Erde -  die indigenen Waldvölker. 
"Es ist manchmal schwierig, anderen Menschen  zu erklären, was unser Land und unsere Wälder für uns bedeuten", klagte der aus  Kanada hergereiste Indianer Arthur Manuel. Er ist ein angesehener Häuptling der  in den letzten Regenwäldern von Britisch Columbia (BC) lebenden  Shuswap-Indianer. Angewidert und enttäuscht von der jahrelangen Hinhaltetaktik  durch Kanada und der britischen Krone, hatte Waldindianer Manuel ein Treffen  zu Waldfragen mit deren Vertretern ignoriert und sich dafür in die Schweiz  begeben.
Seit Jahren versucht der freundliche Shuswap, zusammen mit  anderen traditionell denkenden Indianern in BC, der industrialisierten Welt  klarzumachen, dass das Abholzen von Primärwäldern weltweit die Lebensgrundlagen  der in diesen Jahrtausende alten Wäldern lebenden Waldvölker zerstört.  
Urwaldvernichtung bedeutet häufig Völkermord
Doch was in  der Kurzformel "Urwaldvernichtung = Völkermord" verdichtet werden könnte, will  die vereinte Täterschaft aus Regierungen, Holzkonzernen, Handelsgesellschaften  und Konsumierenden wenn immer möglich nicht wahrnehmen. Selbst so einflussreiche  Umweltorganisationen wie der WWF behandeln - neuerdings im Gegensatz zu  Greenpeace - die in und von den Wäldern lebenden indigenen Völker trotz  gegenteiliger Beteuerungen nur zweitrangig. 
Stattdessen sprechen sie  lieber von der Erhaltung der Artenvielfalt und von der Bewahrung der Biosphäre -  die letzten mit der Natur wirklich verbundenen Menschen, die Jäger- und  Sammlervölker, kommen in Reden, Schriften und Taten erst nachher an die  Reihe.
Der Wald als Heiligtum und Lebensquell
Die ohne  Zweifel bedeutendste Rolle bei der Ignorierung der letzten Waldvölker spielen  aber die Konsumierenden in aller Welt, wovon die meisten in Städten leben und  keine Ahnung mehr haben, was ein Wald für einen traditionell lebenden  Waldmenschen alles bedeutet: Nahrungsspender wie Pflanzen, Tiere und Wasser;  Rohstofflieferant für Behausung, Medizin und Bekleidung; Ort der Ahnen, Geister  und spiritueller Intelligenz - der Wald als Heiligtum und Paradies, dem es im  Namen der Schöpfung und nachfolgenden Generationen Sorge zu tragen gilt, mit  bewusster, bescheidener und nachhaltiger Nutzung. 
Eben dies zu erklären,  stellt Chief Arthur Manuel mit verblüffender Sanftheit fest, sei "manchmal  schwierig". Die, die nicht zuhören wollen oder können, antworten auf ihre Art:  Mit einer zerstörerischen Holzschlagmaschinerie aus Motorensägen, Bulldozern,  Helikoptern, Lastwagen, Schiffen, Sägereien, holzverarbeitenden Industrien und  Konsumgütern wie Papier, Baumaterial und Möbel aus Urwaldbäumen.  
Stirbt der Wald, sterben die Menschen und Tiere
Was aber  bleibt zurück? Zerschundene, verwüstete Landschaften, erodierende Berge, tote  Flüsse, verschwundene Fische, verschwundenes Wild, verschwundene Heil- und  Esspflanzen, hungrige, kranke, entwurzelte und verzweifelte Menschen, beschrieb  der sich in in Europa immer wieder gegen den Kahlschlag der indianischen Wälder  in British Columbia wehrende Indianerführer Chief Qwatsinas vom traditionellen  Stammesrat der Nuxalk. Erst im Frühjahr 1998 war Chief Qwatsinas nach Europa  gereist, um die europäische Industrie und Zellstoffbezüger wie den Schweizer  Chemiekonzern Clariant International AG in Muttenz um ein Einsehen zu bitten:  "Verkocht nicht unsere Wälder zu Zellstoff!"
Der Entzug der  Lebensgrundlagen und damit die Zerstörung der letzten Jäger- und  Sammlergesellschaften reisst mehr oder weniger alle vom Niedermachen ihrer  Wälder betroffenen indigenen Völker der Welt in den Abgrund. Denn sind einmal  die Holzkonzerne mit dem Segen der jeweiligen Regierung in ihre bislang  traditionell nachhaltig genutzten Gebiete eingefallen, gibt es kaum mehr  Hoffnung auf Rettung, beobachtete unter anderem Regenwaldschützer Bruno Manser  bei den Penan-Waldnomaden in Sarawak, Borneo. 
Die Holzindustrie  frisst sich durch alle Kontinente
Der Kontakt mit den auf schnelle  Dollars fixierten Holzkonzerne bringe - egal, ob wieder aufgeforstet, selektiv  oder radikal abgeholzt werde - immer Krankheiten, Entwurzelung,  Umweltzerstörung, Strassen und Siedler, die den Lebensraum der Indigenen in  Beschlag nehmen und mit Feldbau oder Viehzucht vollends zerstören. 
Kaum  ist ein Gebiet abgeholzt, würden dann die Konzerne nach vollbrachter Tat  Entlassungen vornehmen, die skalpierten Landschaften verlassen und anderswo  weitersägen. Zum Beispiel in Finnland bei den Sami (Lappen), in Paraguay bei den  Ayoreo-Totobiegosode, in Sibirien bei den Udege, in Papua Neu Guinea bei den  Wooi, in Borneo bei den Kelabit, in Zentralafrika bei den Pygmäen, in Brasilien  bei den Trincheira Bacaja, in Guyana bei den Lokono, in Chile bei den Pehuenche  und so weiter und so fort - bis der letzte Urwaldbaum zu Boden kracht und der  letzte Waldnomade wegzivilisiert ist. 
Die Waldvölker müssen selber  über ihre Wälder verfügen können
Doch das Verschwinden der Waldvölker  wird immer noch kaum wahrgenommen. Es ist bezeichnend, dass alle die Urwälder  ausbeutenden Staaten wie Kanada, Brasilien, Elfenbeinküste, China, Indonesien,  Malaysia und andere mehr kaum wegen ihrer existenzbedrohenden Politik den  Urvölkern gegenüber ins Schussfeld der internationalen Kritik geraten, sondern  ihrer masslosen Abholzpraktiken an den Primärwäldern wegen. 
Das optisch  aufwühlende Niedermachen der Wälder mit den vorausgesagten Folge-Katastrophen  globaler Dimension beunruhigt offensichtlich weit mehr als das kaum  wahrgenommene Verschwinden jener Spezialisten, die seit jeher mit diesen Wäldern  leben, jedoch kein Recht mehr auf sie haben - die indigenen Waldvölker. Ihnen  die Rechte auf ihre Souveränität, ihren Lebensraum und ihre Kultur  zurückzugeben, entspräche nicht nur den Forderungen der Indigenen-Organisationen  und der internationalen Menschenrechtsbewegung, es wäre mit grosser  Wahrscheinlichkeit für die Welt auch die zuverlässigste Garantie für den Schutz  und das Überleben der letzten Urwälder. 
"Der wahre Wert des Waldes  kann nicht in Dollar beziffert werden"
Auch deshalb sollen die  indigenen Waldvölker das Recht auf die Selbstverwaltung ihrer Gebiete erhalten.  Diese für viele Nationalstaaten beängstigende Forderung, wurde am  Incomindios-Workshop mit dem Titel "Wieviel Schutz verträgt der Regenwald?"  ausformuliert. Chief Qwatsinas, der aufgrund seines Widerstandes gegen die  Holzkonzerne von der kanadischen Regierung in den letzten neun Jahren schon  verschiedentlich ins Gefängnis gesperrt wurde und im Mai 1998 die Europäische  Union über das Niedermachen der Nuxalk-Wälder mit europäischer und  schweizerischer Beteiligung informierte, sieht in der indianischen  Selbstverwaltung der von Kanada "widerrechtlich annektierten" Regenwälder die  einzige Lösung: "Nur so können unsere Völker überleben, die übrigens von Kanada  und Grossbritannien nie besiegt wurden. Wir sind nach wie vor rechtlich  unabhängige Nationen, die von ihrer traditionellen Lebensweise abhängen und  diese weiterführen wollen." 
Chief Arthur Manuel, auch Sprecher der  indianischen Allianz der Waldvölkernationen Okanagan, Nlaka'pamux, Secwepemec  und St'at'imc, sekundierte: "Wir Indigenen kennen den wahren Wert des Waldes.  Dieser kann sicher nicht in Dollars gemessen werden. Wir leben seit mehr als 300  Generationen in diesem Wald und wollen weiterhin in ihm leben. Die Konsumenten  müssen dies respektieren lernen."
Die Macht liegt in der Hand der  Konsumierenden
Dem entsprechend und im Interesse aller noch  existierenden Urwaldvölker dieser Welt fiel auch die Resolution am Ende des  Urwald-Workshops in Zürich aus. Sie bittet alle Konsumentinnen und Konsumenten  von Holzgütern, auf Holz aus Primärwäldern zu verzichten und im Zweifelsfall  einheimische Holzarten vorzuziehen. Dass die Zweifel vorherrschen dürften,  schien den meisten Diskussionsteilnehmenden aus Nord- und Südamerika sowie  Europa klar zu sein, da beispielsweise die Zertifizierung des Holzes durch die  internationale Holzinstanz Forest Stewardship Council (FSC) keine Garantie für  Holz aus nicht-indigenen Gebieten bieten könne: "Das FSC-Oekolabel schützt keine  Urwaldvölker."
Eine disziplinierte Konsumverweigerung durch Käuferinnen  und Käufer könne schliesslich die Holzkonzerne zwingen, von den Urwäldern  abzulassen und sich an den reichlich vorhandenen Sekundärwäldern zu "bedienen",  lautete das Kalkül. 
Damit die Rechnung auch aufgeht, müssten allerdings  zwei wichtige Ziele erreicht werden: Einmal die breite und intensivierte  Aufklärung der Konsumierenden über die tödlichen Folgen des nicht erklärten  Krieges gegen die Urwälder und ihre Völker. Und schliesslich die rasche  Einrichtung von grossflächigen Urwald-Schutzgebieten, in denen - ausser die  Waldvölker - niemand etwas zu suchen hat. Es sei denn, die Interessenten haben  den Segen der direkt betroffenen Spezialisten - der indigenen Schützer und  Schützerinnen der Urwälder.
Literaturangabe
Neu: Informationsmappe Indigene  Völker. Erarbeitet und zu beziehen von der IWGIA Lookalgruppe Basel, c/o  Ethnologisches Seminar, Münsterplatz 19, 4051 Basel. Fax +41 061 2667 27 47.  
                14. Januar 2000
                
                
                
                
                    
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