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                Ausgeräumte Landschaft: Jura im Baselbiet
                
                
                Die Schweiz muss wieder verwildern!
                
Die Rettung der Biodiversität erfordert dringend ein neues Naturverständnis
                
                
                Von Ruedi Suter
                
                
                
                Wildnisparks in der Umgebung jeder grösseren Schweizer Stadt fordert der ehemalige Basler Zoologieprofessor Stephen Stearns. In der Tat: Nur die Wildnis kann uns zu dem Naturverständnis zurückführen, das für die Erhaltung der Biodiversität notwendig ist. So braucht jede grössere Stadt ein ausgedehntes Wildnisgebiet, fordern Naturschützer. Vor allem aber müssen wir wieder lernen, der Natur zuzuhören, ihr zuzusehen - und sie nicht mehr anzutasten.
                
                Die Wildnis lebt. Aber wo? Unter den Städten, den Asphaltdecken, dem Beton? In  den eingemauerten Flüssen, Seen und Bächen? Auf den in eine starre Geometrie  gezwungenen Feldern und Wiesen? Vielleicht irgendwo zwischen den Bäumen unserer  steril herausgeputzten Wälder? Oder im Gebirge, wo das Auge dauernd an irgend  ein Zeugnis menschlichen Tuns stösst, an Wege, Hütten, Hochspannungsleitungen,  Lawinenbarrikaden, Speicherseen und Seilbahnen? 
Ruht die letzte  Wildnis im Wildpflanzentopf?
Wo ist sie also, die grosse,  geheimnisvolle, unerschöpfliche Wildnis? Dieses Symbol der Ganzheitlichkeit, mit  seinen Tieren und Pflanzen, seinen Lauten, seinen Gerüchen, seinen natürlichen  Farben und Formen, seinem Leben und Sterben, seinem Chaos und seiner Magie? Da  alle von "Wildnis" reden, muss sie ja irgendwo noch sein. Oder hat sie sich etwa  aufgelöst? Oder so verändert, dass sie bereits in einen Topf mit Wildpflanzen  hineinpasst? Ist die Wildnis vielleicht nur noch eine blasse Erinnerung oder  eine dumpfe Sehnsucht nach dem eigenhändig zerstörten Paradies?
Die  Steinwalze der Zivilisation macht alles platt
Vor noch nicht allzu  langer Zeit war die Schweiz mit Urwäldern überdeckt, in denen auch Bären, Wölfe  und Luchse leben konnten. Für unsere Urahnen war diese Wildnis nicht nur  Lebensspenderin, sie war offensichtlich auch eine gewaltige Bedrohung, gegen die  etwas unternommen werden musste. Heute ist der Grossteil der Schweiz mit  Gebäuden, Strassen, Stauseen und Anlagen zugedeckt. Wo damals noch Urwaldwipfel  wogten, wird heute bald jeder Baum zu einem Ereignis. Die grauen Eckstrukturen  der Betonwürfel haben die grünen Rundformen der Natur ersetzt, die Steinwalze  der Zivilisation hat die über Jahrmillionen gewachsene Vegetation glatt  überrollt. 
Mit ihr auch viele Tiere. Bär und Wolf sind verschwunden, dem  Luchs wird kaum eine Chance gegeben, sich wieder einzuleben. Im Gegenteil, nun  geht es auch den kleineren Tieren ans Leben. Hasen, Schmetterlinge und viele  Vogelarten sind am Verschwinden. Zertreten vom menschlichen "Fortschritt", dem  alles geopfert wird, was nicht rasch Geld einbringt oder der Bequemlichkeit  dient - unser alltäglicher Krieg gegen eine Wildnis, die es in ihrer Urform  hierzulande offensichtlich schon gar nicht mehr gibt.
Der  Rohstoffhunger bedroht die letzten Wildnisspezialisten 
Aber wo  finden wir sie dann noch? Wenn wir heute von Wildnis träumen, von "unberührten  Naturlandschaften", denken wir sicher nicht an den Schweizerischen Nationalpark,  wo der Bär immer noch nicht zurückgebracht wurde. Wir denken viel eher an  Afrika, Australien, Asien oder Amazonien mit ihren gewaltigen Urlandschaften.  Dort leben auch noch Urvölker wie die Pygmäen, Aboriginals, Adivasi oder  Indianer "im Einklang mit der Natur". Von ihnen könnten wir den angstfreien,  einfühlsamen und rücksichtsvollen Umgang mit der Wildnis neu lernen. Es sind die  letzten Spezialisten auf diesem Gebiet. 
Stattdessen zerstören wir, die  Herren und Nutzniesser der Zivilisation, diese Naturvölker mitsamt ihrer  Wildnis, um unseren unersättlichen Rohstoffhunger zu stillen. Das, was wir einst  als Wildnis empfanden und bei uns nicht mehr finden können, wird auch dort  kaputtgemacht, wo es noch vorhanden ist. Die Zivilisation überlebt nur, weil sie  hemmungslos die Schätze der letzten Wildnisse dieser Erde plündert.  
Abenteuerfilme, Ferntourismus und Extremsportarten als  Ersatz
Im gleichen Tempo verliert der Begriff Wildnis an Kraft und  Inhalt. Gleichzeitig aber wird die schwindende Wildnis immer mehr beschworen.  Abenteuerfilme in der Wildnis, Werbung über frohe Menschen in freier Natur und  nicht zuletzt die Extremsportarten (als Ausgleich zur fehlenden Herausforderung  der ausradierten Wildnis) sowie die boomenden Touristentrips in angeblich noch  unberührte Weltgegenden scheinen dem amerikanischen Wildnisphilosophen Aldo  Leopold jetzt schon recht zu geben: "Ohne Wildnis können wir nicht leben."  
Wildnis scheint eben mehr zu sein als nur ein grosses Stück Natur, in  dem die Naturgesetze frei walten und sich der Mensch (wie bei den Naturvölkern)  diesen Gesetzen unterordnet, anstatt sich über sie zu erheben versucht. Wildnis  ist demnach auch ein Urgefühl. Es sagt uns, dass wir, die Zivilisierten, eben  doch nicht das Mass aller Dinge sind. 
Jets, Datenhighway und  Satellitentelefon
"Die Wildnis", schreibt der Schweizer Autor Aurel  Schmidt in seinem Buch "Wildnis mit Notausgang", "ist durch ihre Abwesenheit  gegenwärtig." Eine interessante Feststellung, wenn man weiss, dass sich Schmidt  zwei Monate in der afrikanischen Wildnis aussetzen liess, um hinter die Mystik  dieses Begriffs zu kommen. Diesen empfand er in der von Elefanten, Büffeln,  Löwen und Insekten belebten Einsamkeit, in die trotz allem hin und wieder  Fluglärm drang, als "pauschal und ungenau": 
"Die Wildnis hat sich längst  verflüchtigt, sowohl in einem historischen wie begrifflichen Sinn", stellt  Schmidt ernüchtert fest. Müssen wir also die Wildnis als Begriff neu definieren?  Ihn anpassen an die Zwänge, die wir uns durch eine mit Jets, Datenhighway und  Satellitentelefon zum "Dorf" mutierten Welt geschaffen haben? Müssen wir unsere  Sehnsucht nach dem Urzustand - auch sie verbirgt sich in der Wildnis - endgültig  begraben und uns fortan mit einer platten "Schrebergarten-Wildnis" zufrieden  geben? 
Die geordnete Schweiz als Expertin in der  Wildniszerstörung
"Nur die Wildnis kann uns retten", hatte  Naturliebhaber Henry David Thoreau letztes Jahrhundert aufgrund seines  selbstgewählten Exils in den Wäldern um Boston erkannt. Die Wildnis als Quell  neuer Lebensenergien, als Erinnerung für die Kreisläufe des Seins und das  unfassbar Umfassende der Schöpfung - kann sie durch Parkanlagen, Vorgärten und  Topfblumen ersetzt werden? Eine Frage, die wir uns dringend stellen  müssen.
Gerade hier, in der Schweiz. Kaum ein anderes Land auf der Welt,  das die Wildnis derart systematisch bekämpft und verbannt. Unser Ordnungssinn,  unser Sicherheitsdenken, unsere Angst vor dem Unberechenbaren, unser Wille, ja  nichts dem Zufall zu überlassen und unser fundamentalistischer Glauben an das  Kontrollierbare, Lenkbare und Saubere haben unserem Land die Wildnis  geraubt.
Parzelliert, reguliert, saniert und  organisiert
Zurückgeblieben sind klägliche Überreste, hier ein paar,  dort ein paar, parzelliert, reguliert, saniert und organisiert. Ohne  Zusammenhänge und Eigenleben, trostlos seelenlos. Stark übertrieben, mögen jetzt  einige denken. Eher untertrieben würden jene kontern, die noch das Glück hatten,  anderswo durch eine der letzten Wildnissen gestreift zu sein, wo die natürlichen  Kreisläufe noch nicht von Menschenhand angetastet wurden. 
Woher dieser  Drang, die Wildnis in den Griff zu kriegen und sie damit zu zerstören? Aus der  Urangst vor dem Unbekannten und Unfassbaren? Aus der Erfahrung heraus, dass die  Wildnis lebensgefährlich, mühsam und lästig sein kann und Leben ohne Wildnis  bequemer und sicherer war? Doch hier stellt sich gleich die Frage: Weshalb haben  denn nicht alle Kulturen mit dem totalen Krieg wider die Wildnis reagiert?  
Sesshaftigkeit und Christentum waren  ausschlaggebend
Weshalb konnten sich zum Beispiel Jäger- und  Sammlerkulturen mit der Wildnis arrangieren, wir aber nicht (mehr)? Max  Oelschlaeger, der amerikanische Wildnisphilosoph, führt den ersten Grossangriff  gegen die Wildnis auf den Wechsel von der mobilen zur sesshaften Lebensweise  zurück. Als Nomaden Siedler wurden, begann der Ackerbau, die Viehwirtschaft und  das grossflächige Roden der Wälder. 
Später sollten zwei Religionen zum  stärksten Motor der Naturzerstörung werden, wie der Theologe Eugen Drewermann in  seinem Buch "Der tödliche Fortschritt" überzeugend nachweist: Christentum und  Judentum. Die biblische Weltsicht, die den Menschen über die Natur erhebt und  ihn zum Mass aller Dinge befördert ("Macht euch die Erde untertan und  herrschet..."), habe den abendländischen Menschen von der Natur (und damit von  sich selbst) völlig entfremdet und ihn zu ihrem erbittersten Feind gemacht.  
"Seelenlose, profitrorientierte Zivilisation"
Die  Abendländer hätten sich deshalb, im Gegensatz zu anderen Kulturangehörigen, nie  als ein Teil der Schöpfung gefühlt, sondern sich mit einen zerstörerischen  Antropozentrismus und seinen Eroberungsfeldzügen zum Herrscher über den ganzen  Erdball aufgeschwungen. Darin sieht Drewermann den wichtigsten Ursprung der  heute weltumspannenden Zerstörung durch eine seelenlose, profitorientiere  Zivilisation, der die Ausrottung von Urvölkern, Wildtieren und Wildnissen  letzten Endes egal ist. 
Die ganzheitliche Weltsicht und die Träume,  Hoffnungen und Visionen der naturverbundenen Völker hätten die zivilisierten  Völker mit ihrem unheiligen Intellekt durch Berechnungen, Planungen und  Kalkulationen ersetzt. 
Die Sprache verrät‘s: "Umwelt, Schädlinge,  Ödland"
"Alles an ihrem Denken und Tun ist Gewalt", beurteilte der  Dakota-Indianer Standing Bear die Weissen. Und: "Nur der Weisse hält die Natur  für eine ‘Wildnis‘, nur für ihn wird das Land beunruhigt von ‘wilden‘ Tieren.  Für uns ist die Natur sanft und vertraut. Die Erde ist schön, und wir sind  umgeben von den Segnungen des Grossen Geheimnisses. Erst als der behaarte Mann  vom Osten erschien (...), erst da wurde das Land für uns ‘wild‘."
Sunbear  zeigt auf unsere verräterische Sprache und die Sprengung der natürlichen  Ganzheitlichkeit mit polarisierenden und wertenden Begriffen. Solche werden von  uns tagtäglich benutzt: Wir sprechen von "Um-welt" und hebeln uns damit aus dem  Kreislauf der Natur heraus. Ein Garten ist "verwildert" oder "gepflegt",  ungenutztes Land heisst "Ödland", in den Feldern tummeln sich "Nützlinge" oder  "Schädlinge", und wehe, wenn sich ein Pflänzchen ungeplant gen Himmel reckt -  flugs wird das "Unkraut" vernichtet. 
Ein einig Volk von Machern und  Perfektionisten
So führen wir Schweizer und Schweizerinnen in unseren  Feldern und Wäldern, in unseren Gärten, Rabatten und Blumenkisten unsere kleinen  Vernichtungskriege gegen alles, was uns an die Wildnis erinnern könnte. Und da  wir ein einig Volk von Machern und Perfektionisten sind, tun wir dies genauso  effizient wie das gnadenlose Putzen, Fegen und Pflegen unserer zum keimfreien  Disneyland verkommenden Heimat. 
Wir bestimmen, was wo auf welche Weise  gedeihen und leben darf. Kein Platz für die Spiele der Wildnis und ihr kreatives  Chaos, keine Freiheit für die Natur. Hauptsache, wir haben alles unter  Kontrolle. Die Wildnis können wir ja während unseren Ferien in Alaska oder  sonstwo erleben. Aber: wie lange noch? 
Die Wildnis kommt  zurück
In einer Zeit der zunehmenden, von Menschen verursachten  Naturkatastrophen beginnen wir aber auch zu merken, dass Natur und Wildnis  letzten Endes unbesiegbar sind. Und dass bei weitem nicht alles Machbare gut  ist. Der arrogante Machbarkeitswahn des zivilisierten Menschen schlägt jetzt auf  ihn selbst zurück. Immer mehr Menschen spüren, dass eine Welt ohne Wildnis eine  seelenlose Welt ist. Beton-Wüsten, Häuser-Schluchten, Agrar-Steppen, Zoologische  Gärten und Paragraphen-Dschungel bieten keinen Ersatz.
Es gilt also, die  Wildnis und damit die biologische Vielfalt dort zu bewahren, wo sie in einer  annähernd ursprünglichen Form noch existiert. Und es gilt sie dort  zurückzubitten, wo sie "verschwunden" ist. Die Wildnis wird zurückkommen, wenn  auch nicht mehr in ihrer Urform. Das können wir schon beobachten, wenn wir  einmal nichts machen in unseren Gärten und Blumentöpfen: Ihre "Rückeroberung",  wie sie Franz Hohler nennt, geht rasch. Und es ist eine befreiende Freude, ihr  zuzusehen.
"Zulassen von mehr Wildnis im Alpenraum"
Für die  Rückkehr der Wildnis brechen immer mehr Naturschützer eine Lanze. Die  Internationale Alpenschutzkommission (CIPRA) fordert nun klar das "Zulassen von  mehr Wildnis im Alpenraum" und damit auch mehr Zurückhaltung bei der Natur- und  Landschaftspflege: "Unterlassen ist mehr als ein Verzicht, er ist zugleich ein  schöpferischer Akt." 
In ihrem Standardwerk "Mehr Natur überall" stellt  die Schweizer Naturschutzorganisation Pro Natura fest, dass die  Selbsterneuerungskräfte der Natur unterschätzt würden. Es lohne sich auch  ökonomisch, der Natur Freiraum zu gewähren und den natürlichen dynamischen  Prozessen wieder mehr Raum zu geben: "Wir wünschen uns Räume, wo die Natur  allein Gesetze erlässt, wo die Dynamik rein natürlicher Art ist."Beispielsweise  in den Wäldern, im Gebirge, an den Flussauen und Seeufern. Pro Natura fordert  auch Wiedergutmachung, schlägt etwa die Durchlöcherung von Dämmen vor, um Auen  wieder zu beleben. Oder verlangt die Zulassung ungenutzter Flächen in  besiedelten Landschaften. 
Gelassener werden und sein  lassen
Der frühere Basler Zoologieprofessor Stephen Stearns meint zur  Erhaltung der biologischen Vielfalt: "Ein langfristiges Ziel der Schweiz muss  darin bestehen, in der Nähe jeder grossen Stadt einen 10 Quadratkilometer  grossen Wildnispark zu errichten. Nur der Kontakt zu solchen Gebieten bereits in  früher Kindheit kann zu jenem Naturverständnis führen, das unbedingt notwendig  ist, um langfristig die Biodiversität zu erhalten."
Wir alle -  Individuen, Verwaltungen, Forstbetriebe, Landwirte, Architekten - müssen also  unsere Einstellung dem Leben gegenüber ändern. Und zwar grundsätzlich. Die  letzten Naturvölker zeigen uns die Richtung. Es gilt, uns auf die Ebene der  Natur herabzuholen und zu akzeptieren, dass auch wir nur ein Teil von ihr sind.  Es gilt, unsere fatale Mach- und Ordnungswut abzustreifen. Es gilt zu lernen,  gelassener zu werden, nichts zu tun, sein zu lassen. Der Natur zuzuhören und ihr  zuzusehen genügt! Dann bekommt auch unser Leben einen neuen Sinn — weil wir die  Wildnis in uns wieder spüren können.
                30. März 2001
                
                
                
                
                    
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