© Illustration by Ingrid Gellersen
                
                
                "Megakick aus Langeweile": Die Wegschau-Gesellschaft
                
                
                Stell' Dir vor, es herrscht Gewalt und keiner schaut hin
                
Jenseits des Wir-Gefühls: Die Gesellschaft der Individualisten mag sich nicht um Andere kümmern
                
                
                Von Elsbeth Tobler
                
                
                
                Vergewaltigungen, Schlägereien, verbale Schikanen: Das Aggressions- und Gewaltpotenzial wächst. Doch Hilfe, Beistand und Einmischung bei Übergriffen können in einer zunehmend an Einzelinteressen orientierten Gesellschaft immer weniger erwartet werden. Immer mehr Menschen, ums eigene Wohl besorgt, wenden sich ab. Ein Versuch, die Wegschau-Gesellschaft zu erklären.
                
                Es ist schon hell, als Julie C.* (20) am Morgen des 3. Juni 2000 vom Bahnhof  Frenkendorf nach Hause geht. Sie wählt einen Weg entlang einer stark befahrenen  Strasse nach Füllinsdorf. Den Mann, der ihr folgt, bemerkt sie nicht. Plötzlich  packt er sie, drängt sie hinter ein Gebüsch, vergewaltigt und misshandelt sie.  Schreie durchdringen die Stille des Morgens. Passanten gehen vorbei. Sie schauen  hinter das Gebüsch. Niemand greift ein. Keiner ruft die Polizei. Das belegen  spätere Ermittlungen. Julie kann sich befreien und fliehen. Sie erstattet  Strafanzeige gegen unbekannt und wird ärztlich untersucht. Dabei werden  Hämatome, Kratzer, ein blaues Auge, Hautabschürfungen und Würgemale  festgestellt. Noch am selben Vormittag wird ein Verdächtiger von der Polizei  festgenommen und des Verbrechens überführt.
Scham und Angst verhindern  Anzeige
Ein trauriger Vorfall. Sicher ist er hierzulande nicht die  Norm, aber ein Indiz für den wachsenden Trend zum Wegschauen, den Experten seit  geraumer Zeit beobachten. Die schweizerische Kriminalstatistik 2002 weist  307'631 erfasste Straftaten aus, darunter 3'819 Sexualdelikte, davon 484  Vergewaltigungen. Signifikant ist dabei, dass die Täter in den letzten Jahren  immer jünger wurden. Fast jeder vierte Straftäter ist minderjährig. Die  Dunkelziffer wird hoch veranschlagt: "Scham sowie Angst vor persönlichen  Konsequenzen verhindern oft eine Anzeige", berichtet Kriminalkommissar Markus  Melzl, Informationschef der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt.
Gewalt und  Kriminalität gab es zu allen Zeiten. Doch heute ist eine grundsätzliche  Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in westlichen Kulturen feststellbar.  Das spiegelt sich laut Melzl zum Beispiel in der Skrupellosigkeit wider, mit der  Körperverletzungen vermehrt begangen werden. Auch die Gewaltbereitschaft und das  Aggressionspotenzial nehmen zu. So gehören Übergriffe wie heftige verbale  Entgleisungen, Hänseleien, Ausgrenzungen, Bedrohungen und Erpressungen zum  Alltag.
Deutlich zeigt das eine im Juli 2003 in Deutschland  veröffentlichte Studie, in der Bremer Schüler zu Gewalt und Gewalterfahrungen  befragt wurden. Danach hatte jeder Zehnte aus den Schuljahrgängen sieben bis  zehn schon einmal Mitschüler erpresst, jeder Zwanzigste einen Mitschüler  "abgezogen", also beraubt. Und etwa jeder Vierzigste würde auch vor  Waffengebrauch nicht zurückschrecken. "Parallel dazu nehmen Wegschauen und  Ignorieren zu, und zwar aus Angst, auch vor Rache - letztlich eine Folge der  steigenden Brutalität", konstatiert Thomas Leithäuser, Projektleiter und Inhaber  eines Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie an der Universität  Bremen.
Gründe für das Wegsehen
Auch in der Schweiz ist die  Angst gross, im Alltag Opfer einer Gewalttat zu werden. Das belegen neueste  Erhebungen des GfS-Sozialforschungsinstituts Zürich. Zunehmend reagieren auch  hier die Menschen teilnahmslos auf öffentliche Aggression und Gewalthandlungen.  Seit Jahrzehnten wird von Wissenschaftlern eine menschliche Konstante  untersucht: Das so genannte Bystander-Phänomen, die "feige Seite", die in jedem  Menschen schlummert und ihn in brenzligen Situationen daran hindert,  einzugreifen.
Mit dem lange als Ursache des Übels vermuteten Wertezerfall  der Gesellschaft allein lässt sich diese Erscheinung nicht erklären. Hans  Gamper, Leiter der Erziehungsberatung des Kantons Bern, macht vielmehr  "situative, individual- und gruppenpsychologische Faktoren" dafür  verantwortlich, dass Menschen intervenieren oder eben wegschauen. Wie ein  Gefahrenpotenzial kognitiv und emotional bewertet wird, hänge vom Individuum ab.  Empirische Untersuchungen belegten, dass sich der Einzelne umso passiver  verhält, je mehr potenzielle einander unbekannte Helfer am Tatort zugegen sind.  "Wenn sich die Anwesenden kennen, steigert dies die Solidarität mit einem  Angegriffenen", erläutert Gamper. Zudem möchten die Zeugen des Geschehens  Klarheit darüber, ob es sich tatsächlich um ein Verbrechen handelt oder nur um  einen heftigen Streit unter Bekannten, bei dem Einmischung unerwünscht  ist.
Der Andere möge einschreiten
Solch ambivalente  Einschätzungen kommen dem Wunsch der "Zuschauer" entgegen, es möge keine  Gewalttat sein, die zum Eingreifen zwingt, erklärt Gamper weiter. Zugleich hofft  jeder, der andere möge einschreiten, aber letztlich hilft niemand.
So wie  in Basel, an einem kalten Märzabend, gegen 21.30 Uhr. Das Tram Nummer 3 ist gut  besetzt, als Sarah L.* (28) einsteigt. Sie nimmt auf einem Zweiersitz Platz.  Hinter ihr steigt ein junger Mann ein und setzt sich neben sie. Plötzlich drängt  er Sarah an das Fenster und fasst sie gegen ihren Willen an. Sie erleidet einen  Schock und kann sich deshalb weder wehren noch um Hilfe rufen. Mitfahrende  beobachten die Tat, schreiten aber nicht ein. Unbehelligt kann der Täter an der  nächsten Haltestelle aussteigen. Die Betroffene erstattet Strafanzeige gegen  unbekannt. "Man braucht viel Selbstvertrauen und Zivilcourage, um einzugreifen",  sagt Markus Melzl. Hätte das Opfer in diesem Fall eine konkrete Person ("Sie  bitte, im grauen Anzug!") unter den Fahrgästen angesprochen, dann hätten  womöglich alle geholfen. Doch weil die Frau ruhig blieb, war die Situation  schwierig zu durchschauen.
"Wichtig ist es, umsichtig, aber dennoch  prägnant aufzutreten", rät Melzl. Häufig reiche Schreien, um den Täter  einzuschüchtern. Auf keinen Fall sollte das Opfer den Täter duzen oder ein Duzen  dulden, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um einen privaten Konflikt  handelt. Experten nehmen die "Zuschauer" auch in Schutz: Schliesslich sei  niemand darauf vorbereitet, bei einer Gewalttat sofort richtig zu intervenieren.  Häufig hätten sie Angst, selbst verletzt oder für falsches Handeln  verantwortlich gemacht zu werden. 
Verantwortung wird  delegiert
Bei all den Vorkommnissen darf jedoch nicht vergessen  werden, dass sich viele Menschen den Aggressions- und Gewalterscheinungen  couragiert entgegenstellen und Beistand leisten. Paradoxerweise treten auch  gegenläufige Reaktionsmuster auf. Intoleranz anderen gegenüber sowie eine  unterentwickelte Streitkultur der Gesellschaft führen dazu, dass beim kleinsten  Konflikt nach der Polizei gerufen oder ein Fachmann hinzugezogen wird. "Dabei  müsste die Konfliktbewältigung zum Alltag gehören", erklärt der Kinder- und  Jugendpsychologe Gamper. Gerade bei jungen Menschen sei ein kompetenter Umgang  mit Aggressionen eine wichtige Voraussetzung dafür, sich in der Welt behaupten  zu lernen. Kinder und Jugendliche, die einen Konflikt konstruktiv untereinander  gelöst hätten, bräuchten bei weiteren Problemen keine Angst mehr voreinander zu  haben. Sie stellen sogar fest, dass eine gewaltfreie Auseinandersetzung  Ausgangspunkt für neue, positive Erfahrungen mit dem Kontrahenten sein  kann.
Die Praxis sieht leider oft anders aus. Erschreckend die Gründe,  die der Basler Schüler Sven M.* (17) für aggressives Handeln nennt: "Anpöbeln,  das mutwillige Zerstören von Eigentum und Mobben sind häufig eine Art Mutprobe."  Der Täter will sich überlegen fühlen. "Die einen wollen sich in der Clique  beweisen, die anderen suchen aus Langeweile den Megakick, der dann am grössten  ist, wenn sich der Betroffene nicht wehrt und niemand eingreift – aus  Angst."
Zivilcourage und Verantwortung fördern
Die  Anonymität in der westlichen Massengesellschaft verstärkt nicht nur das Gefühl  der Hilflosigkeit des Einzelnen, sondern führt auch zur Erosion von Regeln, die  für ein ziviles gesellschaftliches Zusammenleben notwendig sind. Die Verrohung  im öffentlichen Raum ist Beleg dafür: beschmierte Häuserwände und Vandalismus.  Und es ist keineswegs nur die Jugend, die Anlass zur Reflexion gibt.  Rücksichtslosigkeiten und Intrigen sind Ausdruck der Respektlosigkeit auch unter  Erwachsenen.
Straftaten, insbesondere die mit Gewalt verbundenen, werden  nicht einfach aus heiterem Himmel begangen. "Sozial abweichendes Verhalten hat  meist eine Vorgeschichte und wird oft schon prädispositional, innerfamiliär oder  im gesellschaftlichen Umfeld des Jugendlichen geprägt", analysiert Hans Gamper.  Unbestritten sei auch, dass die Gewaltdarstellungen in Videos, Computerspielen  und im Internet zu einer Verharmlosung von Gewalt beitragen und unter Umständen  gefährliche Identifikationsbilder bis hin zum Realitätsverlust produzieren  können.
Restriktive Verbote gefordert
Auch wenn - gemessen  an der Gesamtbevölkerung - nur wenige Menschen solche Erzeugnisse konsumieren  und nur eine Minderheit von ihnen dadurch kriminell beeinflusst wird, plädieren  Gamper und andere Experten für restriktive Verbote Gewalt zelebrierender  Produktionen. Zudem fordert der Psychologe, speziell Jugendliche so zu  sensibilisieren, dass sie gewalttätiges Verhalten wahrnehmen und darauf  reagieren. "Das Schweigen sollte gebrochen werden, ohne zu denunzieren, wenn  andere mit Gewalttaten und Waffen prahlen oder wenn Jugendliche Zeugen  physischer oder psychischer Übergriffe werden." In erster Linie heisst seine  gesellschaftliche Botschaft: Prävention und Stärkung der ethisch-moralischen  Werte. "Prinzipien wie Verantwortung, Vertrauen, Fairness und Solidarität müssen  gefördert werden. Sie stärken die Zivilcourage und das  Selbstvertrauen."
Das alles ist nicht neu. Menschen, insbesondere Kinder  und Jugendliche, brauchen Anerkennung, Geborgenheit und Orientierung. "Doch  diese Werte und tragfähigen Ressourcen können nur dann greifen, wenn sie  verinnerlicht und vorgelebt werden", ergänzt Gamper. Gewalt und Gleichgültigkeit  ihr gegenüber entstehen nach den Erkenntnissen von Experten denn auch durch  mangelnde oder unzureichende Erziehungskompetenz und Aufsicht der Eltern und  durch ungerechte Behandlung. Aber auch unklare Perspektiven, soziale  Benachteiligung, Armut und Arbeitslosigkeit, Leistungsdruck, Neid und  egoistische Tendenzen können zum Aufbau eines Gewaltpotenzials beitragen. Bei  Menschen aus anderen Kulturkreisen, jugendlichen Subkulturen und  Migrantenorganisationen kommen kulturelle Konflikte, extremistische Tendenzen  und Sprachbarrieren hinzu.
"Abschreckend ist die Angst des Täters vor  Entdeckung"
Auf die Frage, ob härtere Strafen ein wirksames Mittel  zur Bekämpfung von Gewalt seien, erklärt Markus Melzl: "Die Erfahrungen, etwa in  den USA, haben gezeigt, dass nicht einmal die Todesstrafe von Straftaten  abhalten kann. Abschreckend ist vielmehr die Angst des Täters vor Entdeckung."  Deshalb mache es aus seiner Sicht Sinn, Brennpunkte öffentlicher Gewalt mit  Videokameras präventiv zu überwachen und die Polizeipräsenz zu erhöhen. Melzl  führt das Beispiel der kameraüberwachten Fussballmatches an. "Wenn die Polizei  präsent ist, kommt es meist nur zu geringen oder gar keinen  Ausschreitungen."
Doch das reicht bei weitem nicht aus, und viele so  genannte "Normalbürger" sehen darin einen grossen Einschnitt in ihre  persönlichen Freiheiten. Das Sicherheitsempfinden sei sehr individuell. Melzl  rät deshalb, das Selbstvertrauen und die Zivilcourage etwa durch  Selbstverteidigungskurse zu fördern, und setzt auf Sensibilisierungs-,  Präventions-, Integrations- und Interventionskampagnen.
Formell können  Passanten für ihr Wegschauen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Seit  1990 ist Artikel 128 des Allgemeinen Strafrechts in Kraft, der festlegt, dass  unterlassene Hilfeleistung mit Gefängnis oder Geldbusse bestraft werden kann.  "Jemandem nachzuweisen, dass er eine Notlage erkannt und trotzdem nicht  gehandelt hat, ist jedoch sehr schwierig", erläutert Markus Melzl. Auch das  Gesetz kennt Ausnahmen von der Samariterpflicht, weil nicht jede Art von  Hilfeleistung für jedermann zumutbar sei, aber: "Gefordert wird in jedem Fall,  dass der Beteiligte prüft, ob und welche Unterstützung nötig ist." Bei einem  Verkehrsunfall beispielsweise ist Anhalten Pflicht. Für mehr altruistisches  Handeln optiert Hans Gamper: "Irgendwann kommt jeder in eine solche Situation,  in der er die Hilfe anderer benötigt. Und wie froh wird er dann sein, wenn ihm  andere Menschen beistehen oder zumindest per Mobilfunk die Polizei  rufen."
Eigentlich eine Kleinigkeit in einer Zeit, in der sonst wegen  jeder Banalität zum Handy gegriffen wird.
 
* Name von der  Autorin geändert
                13. April 2004
                
                
                
                
                
                
                
                PRÄVENTION, INTEGRATION, INTERVENTION
                etb. In der Schweiz gibt es zahlreiche Anti-Gewalt-Programme. In Zusammenarbeit  mit Schülern, Eltern, Pädagogen, Psychologen, Behörden, Polizei und sozialen  Institutionen sollen das Gewalt- und Aggressionspotenzial abgebaut, ein  positives, vertrauensbildendes Sozialverhalten sowie die Zivilcourage gestärkt  werden. Dazu gehören auch interkulturelle Mediation und  Integrationsstrategien.
Die Interventions- und Präventionsprogramme wie  beispielsweise "Triple P", www.triplep.ch, richten sich mit  Erziehungshilfen an die Eltern und mit "Paths" über die Schulen an Kinder und  Jugendliche. Hier wird in erster Linie die Sozialkompetenz gefördert.  www3.stzh.ch.
Die bereits etablierten kantonalen  Interventionsstellen "Halt Gewalt" leisten Hilfe gegen häusliche Gewalt, unter  anderem mit schnell greifenden polizeilichen Interventionsmassnahmen sowie einem  Trainingsprogramm für Gewalt ausübende Täter. www.equality.ch.
Das  etwa an Schulen etablierte Mediatorensystem "Peacemaker" ist ein Projekt zur  Streitschlichtung. Es umfasst u.a. Konfliktmanagement und Verhaltenstraining  gegen Gewalt. www.ncbi.ch.
Selbstverteidigungskurse: u.a. durch  den Schweizerischen Judo- & Ju-Jitsu-Verband. www.sjv.ch.  
Informationen zu kriminalpolizeilichen Präventionskampagnen, speziell  auch zur Jugendgewalt. www.verbrechenspraevention.ch.
Daneben  bieten zahlreiche Beratungsstellen und Opferhilfeorganisationen Projekte an,  vermitteln Experten, Rechtsanwälte und Vertrauenspersonen.