Journalismus als Dienstleistung – die neue Rolle einer modernen Regionalzeitung
                
Das Dokument: Vortrag des neuen BaZ-Chefs Ivo Bachmann vor der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft Basel, 1. Dezember 2003, Universität Basel
                
                
                
                Ivo Bachmann (40), der neue Chefredaktor der "Basler Zeitung" (BaZ), präsentierte sich am 1. Dezember 2003 zum ersten Mal in dieser Funktion der Basler Öffentlichkeit. Seine programmatische Analyse und seine Vision einer modernen Tageszeitung dokumentiert OnlineReports im Wortlaut.
                
                Sehr geehrte Damen und Herren
 Da steht er nun vor Ihnen: der Innerschweizer, der die Basler Zeitung  in die Zukunft führen wird. Ausgerechnet ein Luzerner! Die Überraschung hier am  Rheinknie war dem Vernehmen nach so gross wie die Erleichterung: Da kommt zwar  ein Nicht-Basler, doch immerhin kein Zürcher – was allerdings, unter uns gesagt,  nur halbwegs stimmt.
Da steht er nun vor Ihnen: der Innerschweizer, der die Basler Zeitung  in die Zukunft führen wird. Ausgerechnet ein Luzerner! Die Überraschung hier am  Rheinknie war dem Vernehmen nach so gross wie die Erleichterung: Da kommt zwar  ein Nicht-Basler, doch immerhin kein Zürcher – was allerdings, unter uns gesagt,  nur halbwegs stimmt. 
Noch fährt nämlich dieser Innerschweizer, etwas  verschämt, in einem Wagen mit Zürcher Nummernschild durch diese Region. Und  verfährt sich all zu schnell in diesem basel-städtischen Labyrinth von  Einbahnstrassen. „Jetzt links halten, dann rechts abbiegen“, meldet sein GPS –  um dem Fahrmanöver sogleich trotzig zu widersprechen: „Bei nächster Gelegenheit  bitte wenden!“ Was für ein Glücksgefühl, wenn es dann doch endlich heisst: „Sie  haben Ihr Ziel erreicht.“ Zum Beispiel hier das Spital-Parking neben dem  Petersplatz.
Nun, jedes Ziel ist der Anfang einer neuen Reise. Und zu  einer speziellen Reise möchte ich Sie heute Abend einladen – zu einem Ausflug in  die Welt der gedruckten Medien, zu ihren Problemen, Herausforderungen und  Chancen. Wir werden zwar kein Redesign bestaunen, keine neue Blattarchitektur  besichtigen, keinen redaktionellen Umbau entdecken. Aber wir können das  Planungsfeld erkunden, auf dem eine modern gemachte, lesernahe Zeitung entsteht  – gemacht von einer Zeitungsredaktion, die journalistisches Schaffen als  wichtige und schöne Dienstleistung sieht.
Nun ist es kein Geheimnis:  Viele Printmedien befinden sich in einer schwierigen Lage – namentlich die  tagesaktuellen Zeitungen. Ihre Auflagen sinken, die Anzeigen schwinden. Und das  ist nicht nur eine Folge der aktuellen konjunkturellen Flaute. Das Problem liegt  tiefer. In den letzten zwanzig Jahren hat sich unsere Medienwelt weit stärker  verändert als in Jahrhunderten zuvor. Und die Rahmenbedingungen ändern sich  weiter.
Werfen wir erst einmal kurz einen Blick auf die wichtigsten  äusseren Faktoren, die auf eine Tageszeitung einwirken:
Die  demographische Entwicklung
Bald schon stellen die über 50-jährigen  die grösste Konsumgruppe. Dagegen nimmt die Zahl der unter 30-Jährigen ab. Dass  damit auch das Durchschnittsalter einer Leserschaft steigt – damit wird man sich  bis zu einem gewissen Grad also abfinden müssen. Und man kann nur hoffen, dass  sich auch die Werbung bald darauf einstellen wird.
Die  gesellschaftliche Entwicklung
Die traditionellen Institutionen –  Kirchen, Vereine, Parteien, Verbände – haben sehr viel von ihrer einstmaligen  Bedeutung im Alltag der Menschen verloren. Zurück bleibt der Einzelne, der für  seine Interessen kämpft. Die Amerikaner sagen dem „Bowling alone“. Wir reden,  etwas trockener, von der Individualisierung der Gesellschaft. Das Interesse an  der guten alten staats- und bildungsbürgerlichen Mission der Presse sinkt im  selben Mass wie die Politikverdrossenheit steigt. 
Die wirtschaftliche  Entwicklung
Tageszeitungen finanzieren sich zu 60 bis 70 Prozent  übers Inserategeschäft. Kaum ein anderes Land kennt eine so starke Pressewerbung  wie die Schweiz. Doch die Anzeigenerlöse schrumpfen nachhaltig – und neuerdings  massiv. Allein in den vergangenen drei Jahren reduzierte sich der Anzeigenumsatz  der Presse um rund eine Milliarde Franken – und besonders bös hat’s die  Zeitungen erwischt. Sie verlieren dramatisch Marktanteil. Noch 1990 flossen  hierzulande über 60 Prozent aller Werbeausgaben in die Zeitungen. Heute sind es  nicht einmal mehr 40 Prozent. Bald hat sich der Werbeanteil der Schweizer  Zeitungen auf europäische Vergleichswerte reduziert. Das heisst umgekehrt auch,  dass selbst bei einem wirtschaftlichen Aufschwung kaum mit einem neuen grossen  Werbeboom in den Printmedien zu rechnen ist. Vor allem mittelgrosse  Tageszeitungen stecken deshalb in der Zwickmühle: sie haben verhältnismässig  hohe Fixkosten und eher schlechte Karten im internationalisierten  Anzeigengeschäft. Und als sei dies alles nicht genug, stagnieren oder sinken  auch noch die Erträge aus dem Lesermarkt.
Nun beobachtet man diese  Entwicklungen ja nicht erst seit gestern. Die problematische Situation ist  längst erkannt. An jeder Fachtagung beklagt man sie. Ein Referent nach dem  anderen warnt vor der „strukturellen Branchenkrise“ und sieht die  Zeitungsverlage vor der „grössten Herausforderung aller Zeiten“. Und eine  besondere Herausforderung ist es, diesen kollektiven Katzenjammer unbeschadet zu  überstehen. Denn insgeheim weiss man ja: Viel näher als die Zeitung der Zukunft  steht den meisten Tagungsteilnehmern die Ausgabe von morgen.
Warum nur?  Der deutsche Kommunikationswissenschafter Klaus Meier hat dafür eine Erklärung  gefunden. „Journalisten“, so sagt er, „Journalisten lieben die Routine. Sie  lieben es, wöchentlich, täglich oder stündlich das Gleiche zu tun. Immer wieder  wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben, aber sie nimmt immer den gleichen  Weg.“ Schön gesagt. Wer sich ständig auf neue Themen einlassen muss, will sich  nicht noch mit neuen Arbeitsabläufen oder neuen Produktionsformen  auseinandersetzen. Journalisten - und genau so die meisten ihrer Verleger - sind  strukturkonservative Menschen. 
Ich will Ihnen hier gerne ein Beispiel  geben. Ein ewiges Thema an Redaktionsretraiten ist etwa die ressortübergreifende  Zusammenarbeit. Nun weiss man: Trendforscher beobachten seit längerem eine  sogenannte Glokalisierung - die Welt ist ein grosses Dorf und das Dorf eine  kleine Welt. Was ist Ausland? Was Inland? Was Region? Ein Attentat in Jerusalem  kann unseren Nachbarn in tiefe Trauer stürzen; umgekehrt trifft der Stellenabbau  eines Basler Grossunternehmens womöglich die Angestellten jenseits des  Atlantiks. 
Die traditionellen geographischen Kategorien, nach denen  Nachrichten gebündelt und Artikel geschrieben werden, vermischen sich immer  mehr. Trotzdem erschöpfen sich viele der redaktionsinternen Diskussionen in der  Frage, ob nun das Ausland vor dem Inland oder das Inland vor dem Ausland  platziert sein soll.
Das ist paradox. Wir leben in einer  Informationsgesellschaft und die Medien gelten als Branche der Zukunft. Die  journalistischen Ausbildungsplätze werden von Interessenten überrannt.  Gleichzeitig aber pflegen viele Verlage und Redaktionen noch Organisationsformen  und Blattstrukturen aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts. 
Sie  glauben mir nicht? Greifen wir zu irgend einer Tageszeitung. Sie widerspiegelt  in aller Regel eine Ressortstruktur, die im Kern bereits über 100 Jahre alt ist:  Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Lokales - heute wie damals. Und wir  blättern in einem Papierformat, das aus einer Zeit ganz ohne Dichtestress  stammt. Es verlangt im Tram, im Bus, im Zug oder im Bett einen Aktionsradius von  mindestens einem halben Meter. Ganz zu schweigen von der zeitlichen Anforderung,  die eine umfassende Tageszeitung stellt. Wer sein Leibblatt wirklich gründlich  lesen will, kann nicht morgens um sieben im Büro eintreffen und abends um sieben  im Ausgang sein – ausser er ist Journalist und liest die Zeitung während der  Arbeit.
Wird diese traditionelle Form einer Tageszeitung den heutigen  Informationsbedürfnissen und dem modernen Mediennutzungsverhalten noch gerecht?  Ich habe meine Zweifel. Und sie nähren sich nicht zuletzt aus meinen ganz  persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen als Medienkonsument.
Erlauben  Sie mir hier eine kleine Rückblende in mein Elternhaus. Ich bin - Sie wissen es  - im Luzernbiet aufgewachsen. Das war ein besonderes Glück. Mein Vater hatte  alle drei damaligen Regionalzeitungen abonniert: das liberale Luzerner Tagblatt,  das konservative Vaterland und die aufmüpfigen Luzerner Neusten Nachrichten. Und  so las ich mich - genau wie mein Vater - tagtäglich von einer Zeitung durch die  andere. Schöne alte Zeit. Es gab daneben nur Radio Beromünster und das Schweizer  Schwarz-Weiss- Fernsehen. Keine Lokalradios. Kein Privat-TV. Und schon gar kein  Internet. Alle nötigen Infos lieferten die Zeitungen, die  Radio-Mittagsnachrichten, die 20-Uhr-Tagesschau. Und ein gestelzter Hans A.  Traber und ein gepresster Hans O. Staub. Das wars dann schon.
Für mich  war damals klar: Ich wollte dereinst Zeitungsmacher werden. Und so verbrachte  ich als Teenager ganze Wochenenden vor der Schreibmaschine meines Vaters,  rubbelte mit Terpentinlöl die besten Zeitungsfotos auf ein neues Blatt Papier,  tippte drum herum flammende Kommentare zum Weltgeschehen und gestaltete meine  eigene, kleine Zeitung.
Dreissig Jahre später darf ich die Mediennutzung  meiner zwei Töchter studieren. Sie sind 13 und 15 Jahre alt. Sie lesen keine  NZZ, keinen Tagi, auch leider noch kaum eine Basler Zeitung. Sie zappen hingegen  durch 50 Fernsehkanäle und surfen täglich im Internet. Immerhin: Am Morgen, auf  der Busfahrt zur Schule, lesen sie das Pendlerblatt. Und ich muss einräumen: sie  kennen nicht nur alle Top-Charts; sie sind auch über das aktuelle Zeitgeschehen  mindestens so umfassend informiert, wie ich es damals war. Nur ihr Berufswunsch  riecht noch nicht nach Terpentin.
In kleinen Dingen entdeckt man oft das  grosse Ganze. Zwischen meinen Wochenenden an der Schreibmaschine meines Vater  und den Surfstunden meiner Töchter am Laptop liegen nicht nur Jahre, sondern  Welten. Die Mediennutzung, die Informationsmöglichkeiten und Kommunikationswege  haben sich total verändert. Und damit auch die Ansprüche an eine Zeitung. Nur  scheint das viele Zeitungsleute nicht gross zu kümmern. Auch hier in Basel. Die  Basler Zeitung ist plus-minus die gleiche wie vor 20 Jahren.
Doch nehmen  wir die gute Nachricht für uns Zeitungsmacher vorweg. Sie kommt von der  Meinungsforschung und attestiert den Printmedien eine nach wie vor hohe  Glaubwürdigkeit. Fast drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer vertrauen  den Informationen der Presse. Das sind himmlische Werte. Den Kirchen glaubt noch  knapp jeder Zweite, den Parteien nur noch jeder Vierte. 
Ein ähnlich  gutes Zeugnis, wenngleich mit anderen Zahlen, erhalten die Zeitungen in einer  kürzlich veröffentlichten Umfrage in Deutschland. Danach halten über 40 Prozent  der Befragten die Tageszeitung für das glaubwürdigste Medium – weit vor den  TV-Sendern und Radios. Auch in Sachen Aktualität, Sympathie, Relevanz,  Orientierung und Verfügbarkeit liegen die Printprodukte weit vorn.
Die  schlechte Nachricht betrifft die tägliche Nutzungsdauer. In unserem nördlichen  Nachbarland konsumieren die Leute mindestens vier Stunden täglich irgendwelche  Medien. Aber für die Zeitungslektüre bleibt sehr, sehr wenig Zeit. Bei den 30-  bis 39-Jährigen sind es nur noch 12 Minuten und bei den 20- bis 29-Jährigen  gerade noch sieben Minuten am Tag.
Da sieht’s in der Agglomeration Basel noch etwas besser aus. Zumindest  auf den ersten Blick. Knapp eine halbe Stunde verbringen hier die Leute mit dem  Lesen oder Durchblättern einer Zeitung. Doch der Schein trügt. Über 20 Prozent  nutzen werktags erst gar keine Zeitung. Und wer noch liest, blättert selbst in  Basel womöglich in mehreren Titeln. Zudem liegt die tägliche Lesedauer bei den  unter 30-jährigen Zeitungskonsumenten ebenfalls deutlich tiefer - bei nur knapp  20 Minuten.
Was hier passiert, erfahren wir alle in unserem eigenen  Alltag. Wir verbringen immer mehr Zeit vor Bildschirmen und haben oft kaum noch  die Musse für einen vertieften Blick in die Zeitung. Fernsehen und Internet  drücken aufs Zeitbudget des Zeitungskonsumenten. Man mag dies bedauern. Doch wie  meinte der deutsche Publizist Hellmut Walters? „Es ist bezeichnend, dass es in  unserer Welt nur Zeitnehmer gibt, aber keine Zeitgeber.“ 
Stellt sich die  Frage, welche Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen zu ziehen sind. Wie muss  sich eine Regionalzeitung positionieren? Wie sieht die publizistische Antwort  auf die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung aus? Wie soll die Zeitung  auf den Wandel in der Mediennutzung reagieren? 
Ich bin Journalist und  will mich deshalb auf die publizistischen Aspekte konzentrieren. Und aus dieser  Sicht scheinen mir vier Punkte besonders wichtig:
• Eine  Regionalzeitung muss aktuell, brisant und überraschend sein. 
• Eine  Regionalzeitung muss glaubwürdig sein. 
• Eine Regionalzeitung  muss lesernah und nützlich sein. 
• Eine Regionalzeitung muss kompakt  und handlich sein.
Der legendäre amerikanische Zeitschriften-Designer  Alexy Brodovitch verlangte von seinen Grafikern und Fotografen beim Harper’s  Bazar im Wesentliches vor allem eines: „Surprise me!“ Die simple Botschaft ist  in die Mediengeschichte eingegangen. Denn das Geheimnis eines guten Layouts ist  tatsächlich die Überraschung.
Surprise me! – diese Forderung  sollte man allerdings nichts nur an die Layouter, sondern vor allem auch an die  Journalisten stellen. Denn der redaktionelle Alltag gestaltet sich häufig ganz  anders. Da fragt der Chefredaktor den Journalisten: „Und, was ist an der  Pressekonferenz gelaufen?“ Der Journalist antwortet: „Nichts!“ Und der  Chefredaktor sagt: „Gut, dann schreiben Sie darüber 50 Zeilen.“
Es gibt  für eine Zeitung nichts Schlimmeres als die inhaltliche und grafische  Langeweile. Jedenfalls aus der Sicht des Lesers. Er will überrascht werden. Er  sucht die brisanten Themen, die überraschenden Gedanken. Er will sich  gelegentlich sogar ärgern dürfen – nicht über die tödliche Langeweile einer öden  Parlamentsberichterstattung, sondern zum Beispiel über die hartnäckig  recherchierte Geschichte über die Kumpanei bei einer staatlichen  Auftragsvergabe. 
Eine Redaktion muss deshalb den Ehrgeiz haben, wirklich  aktuelle, brisante und überraschende Themen in ihr Blatt zu bringen. Sie muss  die Zeitung – inhaltlich – täglich neu erfinden. Das erfordert nicht nur grosse  journalistische Neugier und grösstmögliche redaktionelle Flexibilität. Es  verlangt auch eine gewisse kritische Distanz zu den Entscheidungsträgern in  Politik, Wirtschaft, Kultur. Man muss sich notfalls auch auf die eigenen Füsse  treten wollen.
Doch das kann man nur, wenn die Vertrauensbasis stimmt.  Und dafür braucht’s vor allem eines – redaktionelle Glaubwürdigkeit. Sie ist das  wichtigste Kapital einer Zeitung - und ein entscheidendes Plus im Wettbewerb mit  anderen Medien. 
Glaubwürdigkeit kommt nicht im Felicitas-Köfferchen zur  Zeitung. Sie muss täglich erarbeitet und verteidigt werden. Und sie ist nur  unter drei Voraussetzungen möglich:
1. Wirtschaftliche  Unabhängigkeit
Sie ist ganz wichtig. Und für jede Zeitung, die durch  Werbung mitfinanziert wird, zuweilen ein heikler Punkt. Man will den  Leserinteressen gerecht werden und bemüht sich gleichzeitig um ein gutes  Verhältnis zu den Anzeigenkunden. Was also, wenn eine berechtigte Kritik mal  einen Anzeigenkunden trifft? Haben auch dann die Leserinteressen Vorrang? Nur  ein wirtschaftlich unabhängiges und gesundes Unternehmen kann notfalls Stärke  zeigen.
2. Innere Unabhängigkeit
Manche Journalisten unterzeichnen  in ihren Arbeitsverträgen eine Verpflichtung, auf parteipolitische Aktivitäten  zu verzichten. Das tönt nach schrecklichem Formalismus und ist gewiss noch keine  Gewähr für Unvoreingenommenheit. Aber es ist doch mehr als eine Geste. Es ist  ein Bekenntnis. Ein Bekenntnis zu einem Journalismus, der zwar sachbezogen eine  klare Haltung, aber keine vorgefasste Meinung hat. Ein Bekenntnis zu einem  Journalismus, der nicht politisch unbequeme Ansichten ausblendet oder Fakten  geradebiegt. 
3. Journalistische Sorgfalt und  Fairness
„Journalisten“, so sagte einmal mein Verleger, „Journalisten  sollten sich um Wahrheit und Klarheit in Anstand bemühen.“ Denn glaubwürdig  bleibt nur, wer die berufsethischen Grundsätze auch im harten Quoten- und  Auflagenwettbewerb respektiert, wer die journalistischen Regeln einhält und wer  eigene Ungenauigkeiten oder Fehlleistungen korrigiert. Es ist letztlich viel  wichtiger, eine Geschichte richtig zu recherchieren als eine Story als Erster zu  bringen. 
Das dachte sich womöglich auch Mark Twain, als er noch Redaktor  eines kleinen Blattes in Virginia City war und ihm eines Tages das Material für  eine ganze Seite fehlte. Kurz entschlossen rückte er den Leitartikel aus der  letzten Ausgabe noch einmal ein und schrieb in einer Einleitung: „Auf  vielseitiges Verlangen aus unserer geschätzten Leserschaft bringen wir diesen  Artikel heute noch einmal zum Abdruck.“
Im Ernst: Was verlangt die  geschätzte Leserschaft heute tatsächlich? Wie trifft man das viel zitierte  Leserinteresse? Wie schafft man Lesernähe?
In einer neuen Facharbeit des  Instituts für Medienwissenschaft der Universität Bern äussern sich ein paar  Chefredaktoren der auflagenstärksten Schweizer Tageszeitungen zu dieser Frage.  Der eine sagt: „Ich habe das im Gefühl, im Bauch, auf den verlasse ich mich.“  Und ein anderer meint: „Man versucht halt immer ein bisschen den  Durchschnittsleser in sich zu haben.“ Alles klar – Chefredaktoren müssen sehr  sensible Menschen sein oder aber eine multiple Persönlichkeit entwickeln. Die  Leserschaftsforschung spielt hingegen bei den meisten Printmedien eine sehr  untergeordnete Rolle. Schon gar im journalistischen Alltag. Man schreibt ja  besonders gern, was einen persönlich interessiert. Und man freut sich und ist  stolz, wenn ein paar Leute aus dem Bekanntenkreis zum gelungenen Beitrag  gratulieren.
Das ist schön, aber auch gefährlich. Denn das persönliche  Gefühl, was interessieren könnte, ist zuweilen sehr trügerisch.
Das zeigt  ein Experiment, das von den zwei britischen Wissenschaftlern George Loewenstein  und Daniel Read durchgeführt wurde. Sie liessen zunächst ihre Exploranden jene  Kinofilme aussuchen, die sie sich mal gerne anschauen würden. Die meisten  wählten moralisch oder ästhetisch hoch stehende Werke wie „Schindlers Liste“.  Als dann aber konkret zu entscheiden war, welchen Film sie abends sehen wollten,  entschieden sich die meisten für einen anspruchslosen Actionfilm. 
Ganz  ähnlich verhalten wir uns bei der täglichen Zeitungslektüre. Wir alle schätzen  den grossen, fundierten Leitartikel oder den anspruchsvollen Magazinbeitrag.  Wenn wir dann aber beim Morgenkaffee vor der Zeitung sitzen, wird die sogenannt  Letzte Seite zur ersten Seite; dann picken uns wir die kurzen, unterhaltsamen  oder brisanten Beiträge heraus; dann suchen wir die Sportresultate, die  Wetterkarte oder die Todesanzeigen. Den Leitartikel aber heben wir uns für den  Abend auf.
Natürlich soll eine Tageszeitung zum Denken und Nachdenken  anregen. Selbstverständlich muss eine Redaktion auch fundierte Analysen bieten  und verlässliche Orientierung zu den wichtigen Themen der Zeit. Nur sollte man  die Dramaturgie einer Zeitung nicht gegen die Lesegewohnheit  richten.
Greifen wir zur Basler Zeitung. Sie ist heute, genau genommen,  eine tägliche Wochenzeitung. Auf der Frontseite der grosse, kommentierende  Leitartikel zum weltpolitischen Geschehen. Auf der zweiten und dritten Seite der  vertiefende Hintergrund zum Kennedy-Mord vor 40 Jahren. Im Auslandteil eine  Sonderseite zur gesellschaftlichen Entwicklung in Rumänien. Im Inland ein  ausführlicher Beitrag zum parteipolitischen Hickhack um die Vertretung in den  Parlamentskommissionen. Im Regionalteil eine ganze Seite über die Hintergründe  der Adventsbeleuchtung. Und so weiter, und so fort.
Alle Beiträge sind  äusserst lesenswert. Bloss: Wann nur lesen wir sie? Die Konzeption einer  täglichen Wochenzeitung hat meines Erachtens ein gravierendes Handicap: Ein  halbes Kilo Wochenzeitung erscheint nur einmal wöchentlich; das halbe Kilo BaZ  aber kommt täglich. Es passt in dieser Form nicht in das schmale Zeitfenster,  das ein Tageszeitungsleser seiner Tageszeitung öffnet. Oder, um es in den Worten  eines meiner künftigen Redaktionskollegen auszudrücken: Die Alternative zu „20  Minuten“ kann nicht „20 Stunden“ heissen. 
Liebe deinen Leser wie dich  selbst: Das gilt nicht nur für die inhaltliche und grafische Gestaltung der  Zeitung. Sondern ganz generell für Beziehung zwischen Redaktion und Leserschaft.  
Noch immer sehen viele Berufskollegen in ihren Lesern reine  Informationsempfänger. Interaktion oder Kooperation, gar ein regelmässiger  Dialog ist selten gefragt. Es gibt sogar Leserbriefverantwortliche, die sich  täglich über ihre Kundschaft ärgern und jeden direkten Leserkontakt als  Belästigung empfinden.
Zu diesem Thema hatten wir beim Beobachter mal  eine sehr angeregte Diskussion. Es ging um ein neues Grundkonzept und dabei um  die Frage, wie wir unseren Leserinnen und Lesern begegnen. Und wie wir sie  benennen. 
Mein Vorschlag war, künftig konsequent von Kundinnen und  Kunden statt von Leserinnen und Lesern zu reden. Und dies nicht nur, um der  Multimedialität des Titels gerecht zu werden. Der Begriff „Kunde“ beinhaltet  mehr: Er steht auch für ein besonderes Verhältnis zum Leser, zur Zuschauerin,  zum Zuhörer. Ein Kunde hat Rechte, hat Interessen, hat Ansprüche; er ist aktiver  und gleichberechtigter ins Geschehen involviert. 
Der Zoff war  programmiert. Redaktoren als Kundenberater?! Der Chefredaktor hatte wohl  schlecht geschlafen. Leser sind doch keine Kunden! Inserenten sind Kunden! Und  um die kümmert sich die Anzeigenabteilung im Verlag.
Nun, mir ging es  damals eigentlich nicht so sehr um den konkreten Begriff. Sehr wichtig schien  mir aber die Diskussion darüber, wie wir Journalisten unserem Publikum begegnen.  Wie reagieren wir zum Beispiel auf Kritik? Was machen wir mit unbequemen  Lesermeinungen? Und ganz generell: Wie wichtig ist uns das, was unsere Leser  bewegt? Es ging mir also nicht um Quote und Kommerz; es ging mir um eine  Haltung. Journalismus ist nicht Dienst am Bildschirm; Journalismus ist Dienst am  Leser. 
Es ist darum gewiss nützlich, wenn Redaktionsmitglieder ein  möglichst präzises Bild ihrer Kundschaft haben. Sie sollten die Leserinteressen  und das Leseverhalten kennen. Deshalb führen wir auch bei der Basler Zeitung  gerade in diesen Tagen eine grosse Leserbefragung durch. 
Noch viel  wichtiger aber ist es, dass sich Medienschaffende in der täglichen Arbeit um  dieses „Public Listening“ bemühen. Was beschäftigt die Menschen hier in der  Region? Was sind die drängendsten Probleme im Beruf, in den Schulen, in den  Quartieren und Gemeinden? Diese journalistische Neugier richtet sich weniger  nach der Agenda von Politikern und Behörden. Sie sucht die brennenden Themen im  Dialog mit den Lesern. 
Das macht die heutige Basler Zeitung zwar auch –  aber nur sehr vereinzelt. Etwa in einer Reportage über die gefährlichen  Autoraserpisten in der Region. Oder in einer Recherche zur sinkenden  Wohnqualität im Quartier St. Johann. Oder in einem erfreulich kritischen Beitrag  über die beachtlich hohen Sozialausgaben in der Region. 
Warum tut sie es  nicht konsequenter? Das ist letztlich keine Frage der journalistischen Qualität,  sondern nur eine Frage der redaktionellen Wertmässstäbe: Ist nun die Roadmap im  Nahen Osten wichtiger als die Verkehrsplanung in der nahen Region? Weltpolitisch  gewiss. Auf den Alltag und die Lebensqualität der Baslerinnen und Basler aber  wird die Roadmap einen sehr bescheidenen, die Verkehrsplanung hingegen einen  ganz direkten Einfluss haben. 
„Die Zeitungen sind viel zu lange nicht in  die Richtung des Publikums gegangen, sondern vom Publikum weg.“ Das sagt der  österreichische Verleger Eugen Russ. Seine Vorarlberger Nachrichten, einst ein  verstaubtes Provinzblatt, gelten heute als eine der innovativsten  Regionalzeitungen Europas. Und eine der erfolgreichsten obendrein. Was ist sein  Rezept? Extreme Lesernähe, klarer Fokus auf die Region, viel Leserservice und  eine multimediale Gesamtstrategie. Sein Chefredaktor Christian Ortner sagt es  so: „Die Menschen hier müssen sich in der Zeitung wiederfinden.“ 
Doch  eigentlich hat der innovative Österreicher nur gut kopiert. Vor allem bei  amerikanischen Zeitungen, die sich dem sogenannten Public Journalism  verschrieben haben. Diese neue journalistische Bewegung entstand in den USA  Anfang der Neunziger Jahre. Sie war eine Reaktion auf die wachsende  Unzufriedenheit über die oberflächliche und zynisch-distanzierte  Berichterstattung in den Forumszeitungen. Vor allem aber suchte sie eine Antwort  auf das geringe Interesse vieler Bürger am politischen Geschehen.  
„Listening to the audience“: Das ist der Grundsatz des Public  Journalism. Er will eine Verbindung herstellen zwischen Bürgern und Politik. Er  baut auf die Eigeninitiative der Bürger und gibt ihnen eine Stimme. In der  Zeitung, in öffentlichen Hearings, in speziellen Bürgerforen.
Jay Rosen,  der geistige Vater des Public Journalism, umschreibt diese neue Rolle der Medien  wie folgt: „Zur journalistischen Aufgabe gehört es, die Beteiligung des Bürgers  zu fördern, die öffentliche Debatte zu verbessern –ohne dabei die Unabhängigkeit  zu verlieren, die eine freie Presse verlangt und verdient.“
Droht da ein  Qualitätsverlust? Nein, ein Qualitätsgewinn. Die Zeitung ist nicht mehr nur  Nachrichtenmedium, sondern Abbild einer „Community“. Sie lockt die Leute aus  ihrer Zuschauerrolle heraus. Und stärkt nebenbei eines der Kernanliegen der  Demokratie - das öffentliche Gespräch zwischen Bürgern und Politik. 
Nun  werden Sie vielleicht einwenden, dass sich ja bereits heute manche Zeitung sehr  redlich um die politische Information bemühe. Namentlich die Basler Zeitung. Sie  rapportiert und analysiert das politische Geschehen so umfassend wie kaum eine  andere Regionalzeitung – gewiss. Doch ihr Defizit liegt nicht in der Menge,  sondern in der Auswahl und Form der Beiträge: Man richtet sich sklavisch nach  dem Terminplan der Räte oder nach der parteipolitischen Agenda. Man kommuniziert  im Einweg-Verfahren. Die Haupthandlungsträger in den Artikeln sind Politiker,  Behördenvertreter und Experten. Kaum je kommen Betroffene zu Wort. 
Eine  lesernahe Regionalzeitung informiert nicht einfach top-down. Sie steigt nicht  erst in eine Berichterstattung ein, wenn Pressekonferenzen abgehalten und  Vorhaben zur Stellungnahme freigegeben sind. Und in ihren Artikeln kommen nicht  nur Experten, sondern gleichberechtigt auch Betroffene zu Wort. Die Zeitung wird  lebendig und nützlich und für den Alltag der Menschen relevant. Denn Lesernähe  schaffen heisst: 
• die Leser und ihre Anliegen  wirklich ernst nehmen - in der konzeptionellen Ausrichtung genau so wie in der  redaktionellen Arbeit;
• Interaktion mit dem Leser suchen  – bei der Themenwahl genau so wie in der Art der Kommunikation;  
• konkreten Nutzen für den Alltag bieten, Mehrwert  kreieren – als Artikelverfasser genau so wie als  Unternehmen;
• regionale Themen pflegen,  regionale Themen setzen, regional Präsenz markieren.
Und damit komme ich  zum Schluss meiner Ausführungen – und gleichzeitig zur Frage aller Fragen: In  welchem Kleid, in welcher Grösse, in welchem Umfang kommt diese moderne,  kompakte und handliche Regionalzeitung dereinst daher? 
Hier muss ich Sie  leider vertrösten – auf einen Zeitpunkt irgend wann im nächsten Jahr. Denn  dieses Werk ist ja noch nicht vollendet. Es wird gewiss kein Multiplex und auch  kein Miniplex. Aber eine Zeitung, auf die man hier in Basel stolz sein soll und  in Zürich neidisch. Und die den direktesten Weg zu den Menschen der  Nordwestschweiz findet – ganz ohne GPS.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse  und für Ihre Aufmerksamkeit.
                 2. Dezember 2003
                
                
                
                
                    
                    Weiterführende Links: