Zusammenstehen in schweren Zeiten
Am Abend des 7. Oktober 2023 feierten die Juden Simchat Tora. Dieses mit grosser Freude begangene Fest beendet das Tora-Jahr, in dessen Verlauf die fünf Bücher Mose vollständig gelesen werden. Verdiente Gemeindemitglieder lesen in den Synagogen das Ende und gleich wieder den Anfang der Tora. Die kontinuierliche Lesung steht für den ewigen Bund Gottes mit den Menschen. An Simchat Tora werden die Kinder mit Süssigkeiten beschenkt.
2023 war das Fest alles andere als unbeschwert. Am Morgen des 7. Oktober hatten tausende Terroristen der Hamas und des Islamischen Jihad Israel angegriffen. Sie wüteten bestialisch und ermordeten gegen 1200 Menschen in ihren Heimen, Autos und an einem Musikfestival. Etwa 200 teils schwer verletzte Opfer wurden nach Gaza verschleppt. Bleischwer legte sich das von langer Hand geplante Massaker auf Israel und die Juden in aller Welt.
Auch Samidoun, die die Verbrechen in den Strassen Berlins feierte, verteilte Süssigkeiten. Die linksextremistische palästinensische Gruppe, die einige Monate zuvor im Basler Gewerkschaftshaus und 2022 bei einer Gegenveranstaltung zum 125-Jahr-Jubiläum des Zionistenkongresses in Basel aufgetreten war, wurde in Deutschland verboten. Dasselbe wird zu Recht auch in der Schweiz gefordert.
Antisemitische Polemiken gegenüber dem jüdischen Staat nehmen überhand.
Als sich der völkerrechtlich zulässige Krieg Israels zur Entmachtung der Terroristen und zur Befreiung der Geiseln in Gaza hinzog und auch zahlreiche zivile Opfer forderte, wich die anfängliche Solidarität mit dem Land und den Juden einer immer beissender werdenden Rhetorik, die sich keineswegs auf Kritik an der Politik der Regierung Netanyahu und an der israelischen Kriegführung beschränkt.
Antisemitische Polemiken gegenüber dem jüdischen Staat, der als "künstliches Kolonialkonstrukt" gebrandmarkt wird, nehmen überhand. Mit perfider Täter-Opfer-Umkehr wird hiesigen Juden immer wieder die Verantwortung für gegen sie gerichtete Hass- und Gewaltakte zugeschoben: Sagt der israelischen Regierung, sie sei schuld, dass ihr verhasst und an Leib und Leben gefährdet seid …
Auch in Basel besetzten Demonstrierende Universitätsräume und skandierten die antisemitische Parole "From the River to the Sea", mit der Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Sie wollten im Bernoullianum einen Film über die Terroristin Leila Khaled zeigen. Diese wirkte in den 1970er-Jahren an zwei Flugzeugentführungen mit.
Alter Wein in neuen Schläuchen, fadenscheinig kaschiert hinter Begriffen wie Zionismus.
Wir sind stolz auf die Meinungsäusserungs-Freiheit und die Debattenkultur in der Schweiz. Der Nahostkonflikt und die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern werden kontrovers diskutiert. Was aber gar nicht geht: Der Antisemitismus kommt wieder unverfroren hoch. Alter Wein in neuen Schläuchen, fadenscheinig kaschiert hinter Begriffen wie Zionismus, den man als "rassistische Siedlerideologie" bekämpfen müsse.
Bedenklich ist es, wenn Leute, die in Behörden, an Hochschulen oder in der Politik Verantwortung für die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger tragen, aus opportunistischer Bequemlichkeit nicht mehr dagegen halten.
Der Terror des 7. Oktober 2023 richtet sich nicht nur gegen Israel und die Juden. Er ist eine Attacke auf alle freiheitlichen, demokratischen, offenen Gesellschaften. Die jüdische Philosophin Hannah Arendt schilderte 1964 in einem Fernsehgespräch mit dem Journalisten Günther Gaus, wie sich Bekannte nach der Machtergreifung Hitlers 1933 von jüdischen Menschen abwendeten: "Das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten, … in dem plötzlichen Verlassen. Es war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete."
Bei der Abwehr von Angriffen, wie sie am Tora-Fest 2023 stattfanden, müssen wir zusammenstehen. Wir dürfen nie wieder zulassen, dass jüdische Menschen und Gemeinden isoliert werden und Antisemitismus erneut salonfähig wird.
10. Juni 2024
"Viel läuft falsch"
Reaktion zum Leserbeitrag "Es gibt nicht erst- und zweitklassigen Rassismus": Eine Parteinahme für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die massive Anfeindungen erfahren, wie sie nach 1945 wohl nie mehr vorgekommen ist, ist aus meiner Sicht dringend nötig. Wenn sich Jüdinnen und Juden bei uns nicht mehr getrauen, im öffentlichen Raum Symbole ihres Glaubens zu tragen, läuft viel falsch. Dazu kommen schwerste physische Angriffe.
Ich halte es auch für legitim, sich mit Antisemitismus zu befassen, ohne zugleich andere Formen des Rassismus zu erwähnen. "X ist schlimm, aber Y auch" relativiert letztlich beides und kann floskelhaft wirken.
Zum Krieg: Selbstverständlich gilt das humanitäre Völkerrecht auch für Israel. Meine Kolumne befasst sich aber nicht näher mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, sondern mit dem Antisemitismus bei uns, für dessen Bekämpfung wir in der Verantwortung stehen.
Zur Zulässigkeit des Kriegs von Israel gegen die Hamas: Im Völkerrecht unterscheidet man zwischen "ius ad bellum" (Recht zum Krieg) und "ius in bello" (Recht im Krieg). Eine militärische Intervention zur Abwehr eines über eine Grenze oder Demarkationslinie hinweg geführten Angriffs ist unter bestimmten Voraussetzungen eine zulässige Selbstverteidigung (ius ad bellum). Ob einzelne Akte der Kriegführung zur Bekämpfung dieses Angriffs rechtlich zulässig sind, ist eine davon getrennt zu prüfende Frage des "ius in bello" (humanitäres Völkerrecht).
Marc Schinzel, Binningen
"Positionen überzeug(t)en nicht"
Reaktion zum Leserbeitrag "Swisspeace steht generell für Solidarität ein": Im Zentrum dieser Kolumne stehen andere Aspekte. Nur kurz: Abgesehen von finanziellen Gründen (hohes Defizit im Kanton Baselland) war ich gegen die Gelder, weil mich Positionen von Verantwortlichen von Swisspeace und noch vor kurzem verfolgte Projekte im Nahen Osten nicht überzeug(t)en: die Ablehnung eines Hamas-Verbots, das Ein-Staaten-Modell, "die Aussöhnung" zwischen Mahmud Abbas und Hamas.
Für mich ist klar, dass die terroristische Hamas keine Rolle mehr spielen darf, weder militärisch noch politisch. Jede Vereinbarung mit Hamas ist aus ihrer Sicht rein taktisch. Ihr erklärte Ziel bleibt die Vernichtung Israels und der dort lebenden jüdischen Bevölkerung.
Marc Schinzel, Binningen
"Swisspeace steht generell für Solidarität ein"
Herr Schinzel schreibt in seiner Kolumne, man solle in schweren Zeiten zusammenstehen. In diesem Zusammenhang finde ich es bedenklich, dass man einer Organisation wie der Schweizerischen Friedensstiftung (Swisspeace), die generell für Solidarität einsteht, die Unterstützung verweigern kann.
Thomas Eggenberger, Basel
"Es gibt nicht erst- und zweitklassigen Rassismus"
Der Überfall von Hamas und Islamischer Jihad auf Israel und der Massenmord an Frauen, Männern und Kindern war und ist ein unsägliches Verbrechen, das mit nichts zu rechtfertigen ist. Ebensowenig zu rechtfertigen ist antisemitischer Rassismus wie er leider wieder lauter und aggressiver artikuliert wird.
Es sind aber nicht nur antisemitische Ausfälligkeiten, die zunehmen, auch islamophobische Tiraden. Das ist ebenso unannehmbar. Es gibt nicht erst- und zweitklassigen Rassismus. Rassismus ist eine nicht hinnehmbare Ungeheuerlichkeit, egal gegen wenn er sich richtet.
Der Überfall und die Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober 2023 sind unerträglich. Das Vorgehen der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung in Gaza ist es ebenfalls. Nach Schätzungen von "Aerzte ohne Grenzen" sind neun von zehn Kindern in Gaza unterernährt. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass angesichts dieser Tatsache und der Tausenden getöteten unschuldigen Kinder von völkerrechtlich zulässigem Krieg gesprochen werden kann.
Das humanitäre Völkerrecht gilt für alle, auch für die israelische Armee. Die Verbrechen der Hamas und weiterer Terrororganisationen dürfen nicht dazu führen, dass wir die Augen vor dem unsäglichen Leid, das der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Armee zugefügt wird, verschliessen.
Der widerliche Antisemitismus darf nicht dazu führen, dass der ebenso widerliche Rassismus gegen Muslime unter den Teppich gekehrt wird. Einseitige Parteinahme mag emotional nachvollziehbar sein, falsch ist sie trotzdem.
Thomas Zysset, Bolligen