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                Die Wunden der Zerstörung im Kosova werden noch lange nicht geheilt sein
                
                
                Doch der Krieg tobt weiter – in den Menschen
                
Vom Trugschluss, mit der Rückschaffung der Kosova-Albaner sei das Flüchtlingsproblem gelöst
                
                
                Von Ruedi Suter
                
                
                
                51'000 Frauen, Kinder und Männer retteten sich aus Kosova-Albanien in die Schweiz. Viele davon schwer traumatisiert. 23'000 sind unterdessen wieder zurückgekehrt. An Auffahrt lief für weitere 10'500 Flüchtlinge die Ausreisefrist ab, jetzt wird ausgeschafft. Das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) meint, damit sei das Flüchtlingsproblem gelöst. Ein Trugschluss, denn der Krieg tobt weiter - in den Menschen. Denn vor allem Frauen fürchten sich vor einer Rückkehr, weil sie im Kosova ausgestossen werden.
                
                Es tönte dramatisch, damals, Ende April 1999: "Unsere Einrichtungen könnten aus  allen Nähten platzen. Wie im Zweiten Weltkrieg könnten wir Camps einrichten.  Oder die Ankommenden in Turnhallen und Kirchgemeindehäusern einquartieren." Es  war kein Panikmacher, der mit dieser Warnung das Schweizer Volk auf den  befürchteten Ansturm verzweifelter Flüchtlingsscharen aus dem vom jugoslawischen  Gewaltherrscher Slobodan Milosevic terrorisierten und deshalb wochenlang von  Nato-Kampfjets bombardierten Kosova-Albanien vorbereiten wollte.  
Gerber: Flüchtlingsproblem "gelöst"
Es war ein nüchterner  Beamter: Jean-Daniel Gerber (54), der Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge  (BFF). Doch kaum ein Jahr später, im März 2000, und nach Annahme des revidierten  Asylgesetzes prägte der weltoffene Berner mit dem schwierigen Job gegenüber der  "Basler Zeitung" den verblüffenden Satz: "Das Flüchtlingsproblem ist gelöst."  Auch wenn diese Aussage nur im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstatus fiel (wer  auf diesen einen berechtigten Anspruch hat, bekomme ihn auch), gab er bei den  Hilfswerken Anlass zu Kopfschütteln. Oder zu falschen Hoffnungen bei jenen, die  sich im Flüchtlings- und Asylwesen nicht auskennen und nun meinen, das  ausserordentlich komplexe "Flüchtlingsproblem" sei tatsächlich gelöst.  
Gelöst? Auch aus der Perspektive der Betroffenen, der Opfer? All jener,  die mit Nichts in der Region Basel ankamen, ohne Essen, Schlafstelle und  Sprachkenntnisse, im Herzen Angst und Schrecken, den Kopf voll mit  unerträglichen Bildern? Jener Frauen, Männer und Kinder, die der Horror der  Kriegs-, Totschlag- und Vertreibungs- Erlebnisse seelisch krank machten? Die  nachts schreien, nicht mehr schlafen können, dauernd von Ängsten verfolgt  werden, jedes Vertrauen verloren haben, verstummen, lethargisch werden, auf  Jahre, wenn nicht lebenslang geschockt sind, und für die Begriffe wie Zuversicht  oder Hoffnung nur noch wie blanker Hohn tönen? Wer anstelle der Zahlen und  bürokratischen Fakten solches Leid in den Vordergrund rückt, wird nie von  "gelösten Flüchtlingsproblemen" sprechen können.
Mehr Flüchtlinge als  im ganzen Zweiten Weltkrieg aufgenommen
Die humanitären Institutionen  und die Asylpolitik der Schweiz vermochte Kriegstreiber Milosevic auch 1999  nicht aus den Angeln zu heben. Es mussten hierzulande keine Camps, keine  Turnhallen, keine Kirchgemeindehäuser hergerichtet werden. Und dies, obwohl die  Schweiz mit 52'000 Flüchtlingen aus dem Kosova sogar 1'000 Zivilflüchtlinge mehr  als während des gesamten Zweiten Weltkrieg aufnahm. Die erste Flüchtlingswelle  aus dem Kosova, die im Herbst 1998 zunächst vor allem dank der rasch und  flexibel reagierenden Hilfswerke und andern Institutionen aufgefangen werden  konnte, hatte die nötigen Erfahrungen und Verbesserungen gebracht: Diesmal waren  Bund, Kantone und Hilfswerke besser vorbereitet, besser eingespielt.  
Erste Hilfe für Kriegsflüchtlinge
Jene, die sich in der  Regel zuerst um die ankommenden Flüchtlinge kümmern, die Hilfswerke, erkannten  rasch, dass auch im therapeutischen Bereich gezielte Hilfe dringend notwendig  war. So schuf beispielsweise die Regionalstelle Basel-Stadt/Baselland des  Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) in Kürze das  Beratungsprojekt "Kosova", bei dem die gemeinsam von den Hilfswerken getragene  Beratungsstelle für Asylsuchende der Region Basel (BAS) schwer traumatisierten  Kriegsflüchtlingen mit einer speziellen Beratung und unter Beizug von  DolmetscherInnen "Erste Hilfe" leistete. 
Da die Übersetzerinnen bei  ihrer Arbeit durch das Leid und die Schilderungen der Betroffenen massiv  belastet wurden, konzentrierte sich HEKS BS/BL beim zweiten Projekt auf die sich  aufdrängende Weiterbildung, fachgerechte Betreuung und Supervision der  Albanisch-DolmetscherInnen. Damit sollte auch dem stressbedingten Absprung der  ohnehin raren Fachkräfte vorgebeugt werden.
"Eine ungeheure Ballung an  harten Schicksalsschlägen"
Beim dritten Projekt schliesslich wurde  mit Unterstützung der BAS der Aufbau einer albanischen Volkshochschule in der  Region Basel mit Deutsch-, Albanisch-, Computer- und Nähkursen angepeilt. "Unser  Ziel bis zum Herbst 2000 ist eine von einem Verein getragene  Selbsthilfeeinrichtung für die Bildung und Beratung der rund 10'000 in der  Region Basel lebenden Menschen aus Kosova-Albanien", erklärt BAS-Leiter Willi  Bach die für eine Integration der Flüchtlinge wichtige Starthilfe.
Eine  derartige "Ballung harter Schicksalsschläge", welche die zahlreichen, aus dem  versehrten Kosova-Albanien in die Nordwestschweiz Geflohenen erlitten,  habe er nicht einmal nach dem Bosnienkrieg erlebt, sagt Bach. Dies habe auch die  Schweizer Bevölkerung gespürt, und sei es nur via die aufrüttelnden  Fernsehbilder. Jedenfalls habe sich das Bild von den oftmals pauschal als  "Drogendealer" oder "Kriminelle" verunglimpften Kosova-Albaner bemerkenswert  schnell geändert. Die einheimische Bevölkerung habe die Geflüchteten als Opfer  eines barbarischen Machtspiels erkannt und eine spontane Hilfsbereitschaft an  den Tag gelegt. Jetzt allerdings würden langsam die alten Vorurteile langsam  wieder Oberhand gewinnen.
Schweigen über Vergewaltigungen und  Folter
Doch was erzählt eine mehrfach vergewaltigte Flüchtlingsfrau  wildfremden Menschen in einem wildfremden Land, das als Aufnahmebedingung die  genaue Schilderung des Vorgefallenen verlangt? Und was erzählt in der gleichen  Lage ein wiederholt gefolterter Mann ohne sichtbare äussere Spuren den  DolmetscherInnen einer Behörde oder eines Hilfswerks? Häufig gar nichts,  beobachteten Astrid Geistert und Michel Meier, die sich bei der BAS für das  "Beratungsprojekt Kosova" einsetzen. 
Schwer und schwerst traumatisierte  Opfer sind oft stumm und abgestumpft. Sie können das Geschehene nicht mehr in  Worte fassen, ihr seelischer Zustand muss "erspürt" werden. Oder sie verdrängen,  wollen den Schrecken nicht mehr hochkommen lassen: die Ermordung von Verwandten  und Bekannten, die Vergewaltigungen, Perversitäten, Folterungen, Demütigungen,  die Machtlosigkeit, die Zerstörung ihres Hauses, das Kaputtmachen der sozialen  Strukturen, die erzwungene Flucht und den Verlust all dessen, was einst  erarbeitet, vertraut und liebenswert war. 
Opfer werden wieder zu  Opfern
So wird geschwiegen, und oft auch bewusst, weil die Opfer  nicht nochmals zu Opfern gemacht werden wollen - von der eigenen Gesellschaft.  Zum Beispiel: Vergewaltigte Muslim-Frauen schweigen, aus Scham oder weil ihnen  die Grossfamilie die Kinder wegnehmen und sie, die Mutter, verstossen könnte.  Von den Ehemännern ist nur selten Hilfe zu erwarten, entweder weil sie  umgebracht wurden oder sich auf die Seite der Clans stellen.
Auch  traumatisierte Männer schweigen, etwa aus Scham, versagt zu haben. Sie konnten  ihre Familie nicht vor den mordenden und brandschatzenden  Milosevic-Vollstreckern schützen, mussten machtlos zusehen, wie ihre Heimat  verwüstet wurde. Und sie mussten die würdelose Flucht ergreifen. Tausende von  Frauen und Männern aus Kosova-Albanien versuchen derartige Verletzungen in ihrem  Innern unter Verschluss zu halten - eine Zeitbombe für das Leben nach der  erhofften Normalisierung.
Selbst Helfer möchten am liebsten die  Ohren zuhalten
"Der Krieg ist nicht fertig", umschreibt Michel Meier  den Gemütszustand fast aller Flüchtlinge. Auch jener, die sich schliesslich doch  den FlüchtlingshelferInnen anvertrauen, sei es offen oder mit Anspielungen. Bei  allen, aus denen das Erlittene hervorbricht, versuchen die HelferInnen eine  innere Distanz aufrechtzuhalten, um vom Leid, den Gefühlen und der Wucht des  Gehörten nicht mitgerissen zu werden. 
"Wir ertragen gewisse Geschichten  kaum mehr, bremsen dann ab, weil wir die Leute gar nicht auffangen können und  geben sie an die dafür spezialisierten PsychotherapeutInnen und Fachstellen  weiter", sagt Meier und lobt den guten Teamgeist, der diese Arbeit erst  ertragbar mache. 
Die Frauen sind belastbarer
Seinen und den Beobachtungen von Astrid Geistert  zufolge, sind die traumatisierten Frauen und Mütter in der Regel gewillter und  viel besser in der Lage, neu Tritt zu fassen als die ohnehin weniger belasteten  Männer und Väter. Deren Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit an die neue  Lebenslage in der Region Basel werde viel eher durch Mutlosigkeit und  Depressionen behindert - eine Männergesellschaft, die nicht über das Versagen  ihrer Macho-Ideale hinwegkomme. So bleiben viele Flüchtlingsmänner zunächst auch  den Therapien fern.
Dass traumatisierte Flüchtlinge überhaupt ein  gewisses Vertrauen in ihre fremdsprachigen Schweizer HelferInnen zu fassen  vermögen, hängt von den qualifizierten DolmetscherInnen ab. Ihr Können, ihr  Auftreten und ihre Fähigkeit, mit dem Gehörten umgehen zu können, und sei es  noch so belastend, ist darum für alle - Flüchtlinge, Hilfswerke, Behörden,  Krankenhäuser und TherapeutInnen - von zentraler Bedeutung: Sie schlagen die  Brücken zwischen Sprachen, Kulturen und Mentalitäten. 
Trotzdem würde  dies vorab von privaten Therapie-Institutionen zu wenig erkannt, kritisiert Olaf  Petersen, Leiter des HEKS-Dolmetscherdienstes. Wer als therapiebedürftiger  Flüchtling nicht von staatlichen Stellen erfasst wird, werde in Privatpraxen oft  aus Spargründen ohne richtige Übersetzung behandelt, was vielfach zu  Missverständnissen führe und so die Heilungschancen der Betroffenen beträchtlich  schmälern könne. 
Ausschaffungen schüren neue  Ängste 
Ausgestanden ist das Elend nicht. Nach dem Schock des  Krieges, der Flucht und ein paar Monaten etwas ruhigeren Daseins in der Schweiz,  sehen sich die Tausenden verbliebenen Kosova-AlbanerInnen neuem Stress  ausgesetzt: Der Bundesrat wollte, dass sie bis zum 31. Mai dieses Jahres das  Land freiwillig verlassen haben. Bis 1. Mai haben sich 32'720 Menschen für die  Rückkehr angemeldet, 22'979 haben bis 26. Mai das Land verlassen. 10'500  Personen, die keine Fristverlängerung erhielten, haben aber die Schweiz bis  Auffahrt nicht verlassen. Diese müssen, sofern sie nicht untergetaucht oder  sonst ausgereist sind, noch ausgeschafft werden - durch die Kantone (215 in  Basel, 459 in Baselland). Nach Kosovaren und Kosovarinnen, die sich bis heute  nicht bei den Behörden gemeldet haben, wird gefahndet.
Sie werden  wieder kommen
Jedenfalls  bedeuten der Wegweisungsentscheid und die Ausschaffungen für viele der  Flüchtlinge ein neuer, schwerer Schock, beobachten die MitarbeiterInnen der  Beratungsstelle für Asylsuchende der Region Basel. Vor allem für Frauen und  Mütter, die - insbesondere von Serben - vergewaltigt wurden oder ihre Männer  verloren haben und bei einer Rückkehr in die Heimat vor der Wegnahme ihrer  Kinder oder vor der Ausstossung aus der Familie Angst haben. Ihre letzte  Hoffnung lag bei den Ausnahmeregelungen, die das BFF den Kantonen für Härtefälle  versprach und die nun rund 4'000 Menschen zugute kommen. Was aber ist mit jenen,  die nicht als "Ausnahme" anerkannt wurden, obwohl ihr Schicksal dies  gerechtfertigt hätte?
Was auch immer mit den seelisch verletzten  Kriegsvertriebenen in unserem Lande geschah und geschieht: Ihre inneren Wunden  werden, wenn überhaupt, noch lange nicht verheilt sein. Ihr persönliches  "Flüchtlingsproblem" ist ungelöst. Und das der Bundesbehörde BFF? Dieses scheint  gelöst - bis zum nächsten Krieg auf dem Balkan. Oder anderswo. Aber dann werden  sie wieder kommen, die neuen Flüchtlinge mit ihren Problemen.
                 2. Juni 2000
                
                
                
                
                    
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