Wir leben in respektlosen Zeiten
Wir hören es von allen Seiten: Die Bevölkerung hat keinen Respekt vor Autoritäten, weder vor Lehrerinnen noch vor Ärzten, Polizistinnen oder Pfarrherren. Und, natürlich, erst recht die Jugend nicht vor den Eltern. Autorität war gestern, heute herrscht Ratlosigkeit.
Darüber sprach ich jüngst mit meiner Mutter. Thema war, dass auf den Notfallstationen der Spitäler Sicherheitsdienste aufgestellt werden müssen, weil Patienten randalieren, wenn sie warten müssen. Ach, meinte sie, dass Leute frech werden, habe es doch schon immer gegeben. Dann müsse man sie halt in die Schranken weisen, sich durchsetzen.
Sie, einst Kindergärtnerin, ist der Ansicht, dass sich die Autoritätsperson die Autorität verschaffen muss, von allein komme nichts. Die Grenzen würden immer ausgelotet, das liege in der Natur des Menschen.
Niemand weiss besser als ich, dass sie das kann. Meine Mutter war schon über 90 Jahre alt, als sie vor ein paar Jahren einen Einbrecher zum Teufel jagte. Sie ein krummes, mageres Weibchen, er ein kräftiger, junger Mann. Die alte Dame hat dem sehr dezidiert gesagt, "wo der Bartli den Most holt", und was ihm eigentlich einfalle, da einfach hereinzukommen. Er solle nun umgehend verschwinden, sonst garantiere sie für gar nichts mehr.
Der Einbrecher löste sich in Luft auf, schwer traumatisiert und einen Berufswechsel in Erwägung ziehend.
Wer eine Autorität sein sollte, macht heutzutage das Gegenteil. Geht verständnisvoll auf sein Gegenüber ein, nimmt es ernst, kann alles nachvollziehen. Und irgendwann im langen Prozess der ernsthaften Anteilnahme, etwa beim unhaltbaren Zustand des Wartens im Spital, stellt sich heraus, Überraschung, dass man weiterhin warten muss.
Es fehlt nur noch der Ingress "Alte, dini Muetter ..."
Wir motivieren heute Jugendliche, sich ans Gesetz zu halten, indem wir uns ihren Slang aneignen, ihnen in ihrer Sprache kernige Sprüche servieren. Etwa mit "Dini Muetter will dich nid im Knascht bsueche". Es wird die Jugendsprache imitiert, fehlt nur noch der Ingress "Alte, dini Muetter …" Korrekt im Singular wäre "di Muetter", "dini" steht für Plural, "dini Eltere". Aber lassen wir das.
Wie kam es denn bei uns an, wenn unsere Eltern versuchten, "auf jung" zu machen? Extrem schräg. Jugend will sich abgrenzen, den eigenen Weg finden, rebellieren. Sie muss das tun, sich ablösen, sich finden. Und da kommt ausgerechnet die "Schmier" daher und biedert sich an. Es ist nichts anderes als Anbiederung. Das weckt Verachtung, nicht Respekt. Vor allem bei jenen Jugendlichen, die ohnehin schon am Rande stehen und deren Mutter sie vermutlich tatsächlich nicht im Knast besuchen würde. Die Grenzen und Regeln bräuchten, nicht kumpelhafte Autoritäten, die damit keine mehr sind.
Es ist ein roter Faden, der sich durch unsere Gesellschaft zieht.
Nehmen wir die Mitwirkungsrechte der Bevölkerung. Man lädt ein, erklärt, hört zu, versteht, erwägt, sichert zu. Man ist empathisch, freundlich, und verständnisvoll, sehr verständnisvoll. Aber es geht nun mal nicht anders, und dann wird doch das gemacht, von dem schon von vorneherein klar war, dass man es machen wird. Wer kann es da der betroffenen Bevölkerung übelnehmen, dass sie sich schlicht und einfach "versegglet" fühlt?
Die Autorität hat sich selbst begraben, sich aufgegeben, mutlos, konturenlos, feige.
Kindererziehung funktioniert genauso, respektive eben nicht. Wir reden aufs Kind ein, labern es voll, empathisch, verstehen es, nehmen es ernst, unglaublich ernst, in seinen Gefühlen, seiner Wut. Und mit unglaublich schlechtem Gewissen, das Kind muss schon fast Mitleid haben mit seinen Eltern, muss man es dann halt doch im Kindergarten lassen. Dort brüllt es sich die Wut aus dem Bauch, genau so lange, bis Mutter und Vater mit hängenden Ohren von dannen geschlichen sind.
Die Autorität hat sich selbst begraben, sich aufgegeben, mutlos, konturenlos, feige. Keiner mag mehr durchgreifen oder dem Widerspenstigen sagen, "wo der Bartli den Most holt".
Nein, die Erziehungsmethoden meiner Mutter wünsche ich niemandem. Es ist nicht so, "weil ich es sage", sondern "so, wie ich es erklärt habe, und nun ist Ende der Diskussionen". Wir müssen unser Verhalten als Autoritätspersonen hinterfragen, Selbstsicherheit zeigen, konsequent sein, nicht erwarten, dass der andere einlenkt und sich die Probleme in Luft auflösen. Und schon gar nicht dürfen wir uns anbiedern.
Ich stelle mir meine Mutter mit dem Einbrecher vor, wäre sie verständnisvoll und empathisch auf ihn eingegangen. Schmuck und Geld wären weg gewesen. Vielleicht auch ihr Leben.
15. Juli 2024
"'Vormachen' ist das Wichtigste überhaupt"
Ein guter Artikel, eine stimmige Aussage. Nur – ich gehe davon aus, dass sie nicht alles abdeckt. So meine ich zum Beispiel, dass "Vormachen" das Wichtigste überhaupt ist. Da lernen die Kinder wirklich etwas – sie kopieren doch ihre Eltern. (Ich vergnüge mich oft, wenn ich Kindern im ernsten Gespräch oder gar Streit zuhöre – man meint, man höre die Mutter …) Das fordert erst einmal die Disziplin der Eltern!
Was heutzutage meiner Meinung nach eine bedeutende Rolle spielt: Die Einwanderung von Kindern und Alleinstehenden im Teenageralter. Je nachdem kommen sie aus sehr autoritären Gesellschaften und kommen mit unseren Regeln nicht klar. Und – Kinder kopieren nicht nur die Eltern, sondern auch andere Kinder.
Eingewanderte Kinder haben in ihrer ländlichen Herkunft meist einen allgemein anerkannten Vater mit entsprechender Autorität – hier steht er oft an der untersten Stufe der allgemeinen Anerkennung. Sie verlieren den Respekt, was sich spätestens im Teenageralter auswirkt.
Allein eingewanderte Teenager und junge Erwachsene haben oft schon mehr durchgemacht, als wir uns das vorstellen können. Die lassen sich nichts mehr sagen; es gelten "die Regeln der Strasse".
Mein Fazit: Die strengere Erziehung der Mutter zu übernehmen (mehr oder weniger) alleine reicht längst nicht. Auch unser Staat, die ganze Gesellschaft, müsste mitziehen. Lehrer, Polizisten, die Justiz, die Politik.
Das wird "automatisch" früher oder später passieren. Denn – auch hier geht der Krug zum Brunnen, bis er bricht.
Peter Waldner, Basel