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                "Rettung metaphorisch": Tranquilizer-Star Leo Sternbach
                
                
                Ein Leben für Roche und für Valium
                
Neue Biographie über den jüdischen Forscher und Valium-Entdecker Leo Sternbach und seine bewegte Geschichte
                
                
                Von Lukas Straumann
                
                
                
                Rettete der Basler Pharmakonzern Roche Valium-Entdecker Leo Sternbach vor den Nazis? Eine neue Biographie zeigt erstmals den abenteuerlichen Lebensweg des jüdischen Spitzenchemikers auf, der dem Unternehmen mit seinen Innovationen zeitweise bis zu einem Viertel des Umsatzes verhalf.
                
                "Happy Birthday Valium and Dr. Sternbach" stand in grossen Buchstaben auf der  Geburtstagstorte, mit der die amerikanische Roche-Niederlassung in Nutley (New  Jersey) im letzten Mai den 95. Geburtstag des Chemikers Leo Sternbach beging.  Der Geburtstag fiel mit dem 40-Jahr-Jubiläum von Sternbachs wichtigster  Erfindung, dem Tranquilizer Valium Roche, zusammen. Als verspätete  Geburtstagsgabe beschenkt der Basler Pharmakonzern seinen ehemaligen  Spitzenforscher nun mit einer Biographie, die vor kurzem unter dem Titel "Good  Chemistry – The Life and Legacy of Valium Inventor Leo Sternbach" ("Gute Chemie  – Leben und Vermächtnis des Valium-Erfinders Leo Sternbach") auf englisch  erschienen ist. Verfasst wurde die populär geschriebene Darstellung von einer  Autorengruppe unter Leitung des Schweizer Publizisten Alex  Bänninger.
Jedes fünfte Roche-Patent trug den Namen  Sternbach
Auch dreissig Jahre nach seiner Pensionierung hat Roche  allen Grund, Sternbach dankbar zu sein. Dies nicht nur, weil er als  Forschungschemiker dem Konzern über sechzig Jahre lang die Treue hielt und noch  als Rentner bis vor wenigen Jahren täglich in seinem Labor anzutreffen war.  Roche verdankt Sternbachs bahnbrechenden Erfindungen auch einen guten Anteil an  ihrem kommerziellen Erfolg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während  seiner Tätigkeit für Roche brachte Sternbach 240 Präparate zur Patentreife. Als  er 1973 in Pension ging, lautete nicht weniger als ein Fünftel aller  Roche-Patente weltweit auf Sternbachs Namen. 
Besonders erfolgreich waren  die von Sternbach entwickelten Tranquilizer aus der Stoffklasse der  Benzodiazepine. Insbesondere Librium (1960) und Valium (1963) revolutionierten  den Psychopharmaka-Markt und liessen bei Roche für Jahrzehnte die Kassen  klingeln: Valium war von 1969 bis 1982 in den USA das meistverschriebene  Medikament und gilt in der Pharmaindustrie noch heute als Inbegriff eines  "Blockbusters". Die neue Generation der angst- und krampflösenden Tranquilizer  bot nicht nur in der Psychiatrie neue therapeutische Möglichkeiten, sondern  wurde in den fortschrittsgläubigen sechziger Jahren zunehmend auch von  Hausärzten gegen den Alltagsstress verschrieben. Wegen ihres Missbrauchs- und  Suchtpotentials gerieten Valium und seine Verwandten bald unter Beschuss und  sind noch heute Gegenstand einer kritischen Debatte.
Roche will  positive Neubeurteilung
Ein erklärtes Ziel der von Roche finanzierten  Sternbach-Biographie besteht denn auch darin, zu einer positiven Neubeurteilung  der Benzodiazepine in der Öffentlichkeit beizutragen. Nach Ansicht der Autoren  ist die anfängliche Begeisterung über die neuen Tranquilizer zu sehr einer  skeptischen Haltung gewichen. Redigiert durch den Wissenschaftsjournalisten Bill  Breckon plädieren im zweiten Teil des Buches verschiedene Koryphäen aus  Psychiatrie und Pharmakologie, unter ihnen ein ehemaliger WHO-Direktor, aus  wissenschaftlicher und medizinhistorischer Sicht für die Benzodiazepine. Auch  Sternbach selbst steht weiterhin uneingeschränkt hinter seinen  Erfindungen.
Mehr Spannung für den wissenschaftlichen Laien verspricht  der erste, biographische Teil des Sternbach-Buches, der von Alex Bänninger auf  Basis von autobiographischen Skizzen und einer Reihe intensiver Gespräche mit  dem noch lebenden Chemiker verfasst wurde. Hintergrund ist der Anspruch von  Roche, dem jüdischen Chemiker das Leben gerettet zu  haben, indem der Konzern ihn vor den Nazis in Sicherheit brachte. Dies  jedenfalls führte Roche im August 2001 zu ihrer Entlastung an, als im Zuge der  Untersuchungen der Bergier-Kommission die umfangreichen Geschäfte des Basler Pharmakonzerns  mit dem nationalsozialistischen Deutschland erstmals publik wurden.
In  den Fängen des Antisemitismus
Sternbachs Biographie ist auf  dramatische Weise mit den politischen Ereignissen im Europa des zwanzigsten  Jahrhunderts verknüpft. Leo Henryk Sternbach wurde 1908 als Sohn eines  polnisch-jüdischen Vaters und einer ungarisch-jüdischen Mutter im Adria-Kurort  Abbazia (heute: Opatija) geboren, wo sein Vater eine Apotheke führte. Die  Niederlage der Zentralmächte im Ersten Weltkrieg beraubte die Familie ihres  Vermögens und hatte zur Folge, dass Sternbachs Geburtsort 1918 von  Österreich-Ungarn zu Italien (heute: Kroatien) geschlagen wurde. Die  deutschsprachige Schule wurde geschlossen, und der junge Leo Sternbach wurde  zuerst bei Privatlehrern und mit 13 Jahren nach Österreich zur Schule geschickt.  Aus wirtschaftlichen Gründen siedelte die Familie 1926 schliesslich nach Krakau  in das seit Kriegsende unabhängige Polen über. 
Wie zuvor in Österreich  bereitete Leo Sternbach auch in Polen der zunehmende Antisemitismus  Schwierigkeiten: einzig weil sein Vater Apotheker war, war ihm als Juden  ausnahmsweise erlaubt, Pharmazie zu studieren. Im Zweitstudium wandte er sich  der organischen Chemie zu und promovierte 1931 an der Universität Krakau. Nach  einer Zeit als Forschungsassistent und Lektor verschaffte ihm sein Doktorvater  das von einem jüdischen Textilindustriellen gestiftete renommierte  Wiślicki-Stipendium. Dieses gab Sternbach die finanzielle Möglichkeit, ins  Ausland zu gehen. Anlässlich eines Aufenthalts in Wien lernte Sternbach im  Frühjahr 1937 den berühmten Chemieprofessor und späteren Nobelpreisträger  Leopold Ruzicka kennen. Dieser lud ihn bald darauf ein, als Mitarbeiter in seine  internationale Forschungsgruppe nach Zürich an die ETH zu kommen.
Im  Frühjahr 1940 zu Roche
Seit Oktober 1937 war Sternbach Assistent  Ruzickas am Chemischen Institut der ETH Zürich. Wie Biograph Bänninger vermerkt,  widerfuhren Sternbach in der Schweiz weniger antisemitische Vorfälle als zuvor  in Krakau und Wien, doch gab es auch an der ETH antisemitische Tendenzen. Nach  Auslaufen des Wiślicki-Stipendiums im Frühjahr 1939 stand die Frage im Raum, wie  lange und in welcher Funktion Sternbach noch an der ETH bleiben konnte. Nur dank  Geldern der amerikanischen Rockefeller Foundation vermochte Ruzicka seinen  jüdischen Assistenten weiter zu beschäftigen. In Zürich erlebte Sternbach auch  den deutschen Überfall auf Polen, mit dem Anfang September 1939 der Zweite  Weltkrieg begann.
Als der Basler Pharmakonzern Roche im Frühjahr 1940  einen Forschungschemiker suchte, meldete sich Sternbach. Wohl als einziger  Schweizer Chemiekonzern in der Schweiz stellte Roche zu diesem Zeitpunkt noch  jüdische Wissenschaftler ein – verschiedene Roche-Spitzenleute hatten familiäre  Verbindungen zu Juden. Das Vorstellungsgespräch fand am 7. Mai 1940 statt, drei  Tage vor Beginn des deutschen Westfeldzugs und zwei Wochen bevor Roche-Präsident  Emil Barell blitzartig seine Koffer packte und aus Angst vor einem Einmarsch der  Wehrmacht die Schweiz in Richtung USA verliess – eines der spektakulären  Ereignisse der Schweizer Wirtschaftsgeschichte des Zweiten  Weltkriegs.
Sternbach hätte auch in der Schweiz überleben  können
Nach seiner Ankunft in den USA holte Barell eine Reihe von  Roche-Spitzenleuten und Forschern in die USA, um den vom Verwaltungsrat bereits  1938 beschlossenen Ausbau der Niederlassung in Nutley als Forschungszentrum  voranzutreiben. Im Frühsommer 1941 war die Reihe an Leo Sternbach, der  inzwischen Herta Kreuzer, die 20-jährige Tochter seiner Zürcher Schlummermutter,  geehelicht hatte. Über Südfrankreich und das neutrale Spanien gelangte das  Ehepaar Sternbach zum Atlantikhafen Lissabon. Am 22. Juni 1941, dem Tag des  deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, erreichten Leo und Herta Sternbach an  Bord des Ozeandampfers Serpa Pinto New York, wo sie von Roche-Leuten in Empfang  genommen wurden.
Hat Roche dem herausragenden Chemiker Leo Sternbach  durch den Transfer in die USA das Leben gerettet? Auf das  Roche-Entlastungsargument angesprochen, winkt Sternbach-Biograph Alex Bänninger  ab: "In dieser Dramatik stimmt das nicht." Von einer Rettung könne höchstens in  metaphorischem Sinn die Rede sein. Sternbachs Situation in der Schweiz war zwar  prekär, insbesondere nachdem er aufgrund der deutschen Besetzung Polens als Jude  die polnische Staatsangehörigkeit verlor. Da die Wehrmacht nicht in die Schweiz  einmarschierte, hätte Sternbach aber auch in der Schweiz überleben  können.
Keine Quellenangaben?
In der Arbeit von Bänninger  liegt das Verdienst, die spannende Biographie von Sternbach erstmals einer  breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die zuweilen etwas überschwängliche  Beurteilung Sternbachs ist als Konzession an das (amerikanische) Publikum zu  verzeihen. Aus wissenschaftlicher Sicht zu bedauern ist dagegen, dass nach der  grossen Roche-100-Jahr-Festschrift von Hans Conrad Peyer eine weitere hauseigene  Publikation zur Firmengeschichte erscheint, die auf Quellenangaben verzichtet  und so dem Leser eine kritische Überprüfung der dargestellten Ereignisse  verunmöglicht. 
 
Alex Bänninger, Jorge Alberto Costa e  Silva, Ian Hindmarch, Hans-Jürgen Möller und Karl Rickel: Good Chemistry.  The Life and Legacy of Valium Inventor Leo Sternbach, New York (Mc Graw-Hill)  2004.
 
* Lukas Straumann ist promovierter Historiker. Er  war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bergier-Kommission und ist Ko-Autor der  Studie "Schweizer Chemieunternehmen im  Dritten Reich".
                10. Februar 2004