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Skandal-Werbung: Strafanzeige gegen Invalidenversicherung
Die Werbung fällt auf und schockiert: Stammtisch-Sprüche gegen Behinderte. Die IVB erstattet Strafanzeige. Auftraggeber der Kampagne ist ausgerechnet – die Invalidenversicherung.
Basel, 5. November 2009
Ob im Basler Bahnhof (Bild) oder auf der Allmend, ob in Basel oder sonstwo in der Schweiz: Aufmerksame Bürgerinnen und Bürger schauen zweimal auf Plakate – und sind geschockt: Slogans wie "Behinderte sind dauernd krank", "Behinderte liegen uns nur auf der Tasche", "Behinderte arbeiten nie 100 %" oder "Behinderte kosten uns nur Geld" stehen da schwarz auf weiss geschrieben.
Weitere Informationen enthalten die Weltformat-Plakate nicht: Weder werden die dummdreisten, verletzenden Stammtisch-Sprüche in irgend einer Art aufgelöst, noch durch einen Hinweis auf folgende Plakate relativiert.
Marcel W. Buess, Präsident der "IVB Behindertenselbsthilfe beider Basel", zeigte sich über die Plakate dermassen empört, dass er zusammen mit Geschäftsführer Markus Schneiter heute Donnerstagmorgen um 11 Uhr gegen den Auftraggeber beziehungsweise die Urheberschaft Strafanzeige wegen übler Nachrede, Beleidigung, fahrlässiger Irreführung und Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot einreichte.
Invalidenversicherung spricht von "Teaser-Kampagne"
Der Clou: Hinter der Aufreger-Kampagne steht nicht eine Partei der Scheininvaliden, sondern ausgerechnet die eidgenössische Invalidenversicherung, die eine nationale "Teaser-Kampagne" gegen "perfide Vorurteile" startete, denen sich Invalide im Alltag ausgeliefert sähen. Noch heute Donnerstag, so heisst es in einer heutigen Medienmitteilung des Bundesamts für Sozialversicherungen, folge eine neue "Plakatierung mit der vollständigen positiven Auflösung der Aussage".
Diese "Auflösung" erfolgt offensichtlich unter massivem Protest: Ursprünglich war sie nach Informationen von OnlineReports erst am 9. November vorgesehen.
Wie Marcel Buess gegenüber OnlineReports erklärte, sei die seine Strafanzeige "ernst gemeint" und nicht etwa auch inszenierter Teil einer Medienkampagne: "Wir wollten ein starkes Zeichen setzen: So nicht." Denn etwas bleibt immer hängen.
"Vorurteile müssen ausgeräumt werden"
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat den Mut, die in unserer Gesellschaft leider tatsächlich vorhanden Vorurteile aufzuzeigen. Schwarz auf weiss steht auf den Plakaten, was einige denken. Solche Vorurteile und Urteile sind mit ein Grund, warum es so schwierig ist, Menschen mit unsichtbaren oder sichtbaren Behinderungen in der Arbeitswelt zu integrieren.
Ich kann verstehen, wenn Betroffene im ersten Moment durch diese Plakate verunsichert oder empört sind. Vielleicht gelingt es aber doch, die gute Absicht der Kampagne zu sehen. Eine bessere und stärkere Integration von Menschen mit Behinderungen gelingt nur, wenn sich alle ihrer Verantwortung bewusst werden und ihren Teil dazu beitragen. Dafür müssen zuerst falsche Vorurteile aus dem Weg geräumt werden. Dazu will die Kampagne ihren Beitrag leisten.
Silvia Schenker, Sozialpolitikerin, Nationalrätin SP, Basel
"Kleinkariert, stur und bünzlihaft"
Es ist ja schon unglaublich, wie kleinkariert, stur und bünzlihaft ein grosser Teil der Schweizerinnen und Schweizer sind. Sieht man auf einem Werbeplakat ein bisschen Busen einer Frau, so wird das Plakat von Frauenrechtlerinnen als sexistisch deklariert. Sieht man ein paar Minarette auf einem Plakat, wird es als rassistisch erklärt. Mit ein paar Sprüchen über Invalide, welche zum Nachdenken auffordern sollen, machen wieder kleinbürgerliche Gruppierungen mobil. Genau diese Leute sind es, welche immer sagen, behandelt Invalide wie alle anderen Menschen, also – über uns "Andere" werden ja auch Witze gemacht, warum nicht über Invalide. Im Theater beispielsweise würde dies von denselben Leuten akzeptiert, denn da wäre es Kunst!
Geniesst solche Plakate doch mit etwas Humor, Gelassenheit und mit einem Lächeln und versucht zumindest, den Sinn zu verstehen. Die Welt ist doch voll Unfrieden, da bringen solche Plakate etwas Aufmunterung in den Alltag. Selbst invalide Mitbürger erleben diese Sprüche auf den Plakaten als heiter und abwechslungsvoll.
Cony Meyer, Basel
"Sind die Leute aus der Fassung geraten?"
Zuerst ein Kompliment, dass Sie, Herr Knechtli, auf diese Skandal-Werbung gegen Invalide aufmerksam machen. Sind die Leute aus Bern bei der eidgenössischen Invalidenversicherung total aus der Fassung geraten? Kann man so respektlos über invalide Menschen Werbung machen? Schämen sie sich nicht in Bern? Jedermann kann froh sein, wenn er immer gesund ist. Keiner weiss, was am nächsten Tag ist oder geschehen wird. Unschuldige Menschen sind in Unfälle verwickelt. Kinder werden mit Behinderungen geboren. Umweltkatastrophen können gerade heute bei der Klimaveränderung auf uns zukommen. Jeder kann betroffen werden.
Ich wünsche mir, dass allen schwächeren Menschen, egal in welcher Situation sie sind, einfach geholfen wird, und dass sie mit Respekt behandelt werden. Wer die Kraft hat dazu oder das nötige Geld, sollte doch bitte helfen.
Margrit Blatter, alt Landrätin, Reigoldswil
"Unverschämt rücksichtslose Kampagne"
Die Strafanzeige gegen die Invalidenversicherung verdient die uneingeschränkte Unterstützung all jener, die sich um die Integration Behinderter bemühen. Hier werden die hasserfüllten Emotionen (vermeintlich) Zukurzgekommener, die sich an Invaliden schadlos halten wollen, nicht nur ab-, sondern geradezu vervielfacht hervorgerufen. Wer die perfiden Vorurteile attackieren will, die gegen Behinderte kursieren, darf nicht ungestraft eine unverschämt rücksichtslose Kampagne lostreten, die als "Fake" den Hetzern zudient.
Der IVB Behindertenselbsthilfe beider Basel sei gedankt, dass sie mit der Strafanzeige ein starkes Zeichen setzt.
Franz L. Schmidli-Schnurbusch, Basel