Die Schweiz ist ein gewaltpolitisches Entwicklungsland
Nur ungenügend wird in der Schweiz Brutalität in und um Fussball- und Eishockstadien geahndet. Dies stellten Schweizer Sicherheitsdirektoren auf einer Informationsreise in England, Holland, Belgien und Deutschland fest.
Basel/Zürich, 21. August 2009
Die Delegation, der auch der Basler Sicherheitsdirektor Hanspeter Gass (Bild) angehörte, stellte heute Freitag vor den Medien fest, "dass die Bekämpfung der Gewalt im Sport in den vier besuchten Ländern bei vergleichbaren
Rechtsgrundlagen deutlich entschlossener erfolgt als in der Schweiz". Die Zusammenarbeit aller Beteiligten sei "enger und strukturierter" und basiere auf einer klaren Strategie unter Führung der Polizeibehörden. Die Klubs und Behörden betrieben auch "deutlich mehr Aufwand, um Personen, die gegen das Gesetz oder die Stadionordnung verstossen, zu identifizieren und zu sanktionieren". Dies führe dazu, "dass die Gewalt rückläufig ist und die Spiele teilweise mit deutlich weniger Polizeiaufwand bewältigt werden können als in der Schweiz". Ausserdem falle auf, dass der gesetzliche Strafrahmen rascher ausgeschöpft wird und die Auflagen an Klubs und Stadionbetreiber sowie die Stadionordnungen strenger sind.
OnlineReports dokumentiert die Eindrücke der Delegation im Wortlaut:
England, Holland und Belgien
Gegenüber den Problemfans gilt in England, Belgien und Holland überall eine Null-Toleranz-Strategie. Beispiele:
• In keinem englischen Stadion gibt es rechtsfreie Räume. Vielmehr wird selbst schlechtes Benehmen wie Betrunkenheit oder beleidigende Zurufe mit Stadionverboten sanktioniert. Die Dauer der Stadionverbote beträgt mindestens drei Jahre und reicht bis lebenslänglich.
• In England, Holland und Belgien gilt das so genannte Kombi-Ticket: Nur Gästefans, welche die organisierten Fanzüge oder –busse benützen, erhalten Tickets im Gästesektor. Bei einem Risikospiel in Belgien, das die Delegation besuchte, wurden zehn Busse mit Gästefans direkt in einen abgesperrten Bereich vor dem Stadion gefahren. Von dort aus gelangten die Fans in ihren Sektor, ohne mit einheimischen Fans in Berührung zu kommen. Nach dem Spiel erfolgte dieselbe Abwicklung in umgekehrter Richtung. Das Spiel konnte so mit 20 Polizisten und 75 Stewards des Klubs bewältigt werden.
• In England bestimmt der Klub, wer auf welchem Platz sitzt. So wird die Bildung problematischer Sektoren zum vornherein verhindert.
• In England gilt in den Stadien ein generelles Alkoholverbot, in England und Holland sogar in Fanbussen und –zügen. Eigene Stewards kontrollieren die Fans beim Einsteigen in Anwesenheit der Polizei. In Belgien und Holland dürfen generell keine Getränke mit auf die Ränge genommen werden.
• Die Klubs verhängen in allen besuchten Ländern deutlich konsequenter Stadionverbote.
Beispiel Freiburg i.B.
Deutschland hat in Bezug auf die Gewalt und die Anzahl benötigter Polizeikräfte wie die Schweiz weiterhin steigende Tendenz. Durchschnittlich werden pro Bundesligaspiel 1'000 Polizeikräfte eingesetzt. Ein Gegenbeispiel ist Freiburg i.B., wo durchschnittlich nur 50-60 Polizisten benötigt werden. Regierungsrat Hanspeter Gass erläuterte, dass dies auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Klub und Polizei sowie auf eine konsequent ultra-unfreundliche Politik zurückzuführen ist, mit der die Ultra-Szene auf ca. 60 Personen beschränkt werden konnte:
• In Freiburg gilt im Umfeld des Stadions und im Gästesektor ein generelles Alkoholverbot. Alkoholisierte Fans werden sofort in Gewahrsam genommen – unabhängig von ihrem Verhalten. Bei Jugendlichen werden Alcometer eingesetzt und die Eltern aufgeboten, um ihre Kinder abzuholen, wenn sie Alkohol konsumiert haben.
• Vorsänger und Megaphone sind im Gästebereich verboten und im Heimbereich nur mit strengen Auflagen erlaubt. Beleidigungen von Spielern oder gegnerischen Fans werden nicht toleriert, um eine positive Stadionkultur und keine Hasskultur zu schaffen.
• Verstösse gegen die Stadionordnung werden konsequent mit Bussen bis zu 5'000 Euro und mit Stadionverboten bestraft, die immer bundesweit gelten.
• Transparente oder Choreografien sind im Innenbereich des Stadions nicht erlaubt, weil sie von den Fans zu oft dazu benützt werden, um sich dahinter zu verbergen und sich dem Blick der Videokameras zu entziehen – beispielsweise, um unerkannt Feuerwerk abzubrennen.
• Die Ultras erhalten keine Auftritte in der Stadionzeitung, und es wird ihnen verboten, einen Fanshop zu gründen, damit sie sich nicht über die dort generierten Einnahmen finanzieren können und grösseren Einfluss gewinnen.
• Den Spielern ist es untersagt, den Ultras zu huldigen – sei es in Interviews, beim Torjubel oder auf der Abschiedsrunde nach dem Spiel.
• Die Fanmärsche werden polizeilich eng begleitet. Polizisten in Zivil machen die Märsche mit und kennzeichnen Fans, die sich nicht korrekt verhalten, mit roten Klebepunkten oder SMS-Beschreibungen an die Polizeikollegen, die sie später beim Stadioneingang abfangen. Bei Hochrisikospielen zwingt die Polizei die Fans, auf Fanmärsche zu verzichten und bringt sie mit separat bereitgestellten Strassenbahnen vom Fanzug zum Stadion.
In Freiburg werden – wie in allen besuchten Ländern – viele personelle und technische Ressourcen in eine breite Videoüberwachung und in die Auswertung der Bilder investiert, um Täter zu identifizieren. Und bei der Staatsanwaltschaft gibt es einen Staatsanwalt, der sich ausschliesslich auf Fussball-Delikte konzentriert.
"Nicht länger als gesellschaftliche Tatsache hinnehmen"
Die Delegation ist sich laut einer Medienmitteilung "einig, dass die Gewalt im Umfeld von Fussball- und Eishockeyspielen nicht mehr länger als gesellschaftliche Tatsache hingenommen werden darf und wieder ein friedliches Umfeld entstehen muss, in dem auch Familien mit Kindern Spiele besuchen können, ohne mit einer Gewalt- und Hasskultur konfrontiert zu werden". Die Sicherheitsdirektoren sind "auch nicht mehr bereit sind, weiterhin so viel Polizei aufzuwenden und dafür zu Lasten aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler so hohe Kosten in Kauf zu nehmen wie bisher". Deshalb müsse "der Trend zu immer mehr Gewalt gebrochen werden".
Weiterführende Links:
- Schluss mit anonymem Krawall im Stadion
- Fussball-Schlacht zu St. Jakob: Meisterfeier in Tumult und Tränengas
- Verletzte im St. Jakob-Park: Feuer-Attacken im Stadion
- Verantwortungs-Flucht vor Fussball- und Stadt-Gewalt