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                "Ganz einfach, gläubig zu sein": Prediger Amr Khalid
                
                
                Ägyptens neue Prediger und ihre verführerische Botschaft
                
Der "Islam light" erobert mit neuen Vermittlungsformen die arabisch-islamische Welt
                
                
                Von Beat Stauffer
                
                
                
                Sie tragen Kopftücher, gehen aber auf Distanz zum politischen Islam. Sie verstehen sich als gläubige Muslime, wollen aber vollumfänglich an den Segnungen der westlichen Zivilisation teilhaben. Sie lauschen gebannt religiösen Talkshows am Fernsehen, die nach dem Muster der amerikanischen TV-Predigten gestrickt sind. Von Ägypten aus erobert ein neuer „Islam light“ die arabisch-islamische Welt und zunehmend auch Europa, den auch die Schweiz zur Kenntnis nehmen sollte.
                
                Die Karriere des heute 36-jährigen Buchhalters Amr Khalid zum berühmtesten  Fernsehprediger, ja zum islamischen „Superstar“, ist schlicht atemberaubend.  Entdeckt wurde der äusserlich nicht besonders attraktive Absolvent einer  Handelshochschule - so berichtet der aus Lausanne stammende Politologe Patrick  
Haenni (Bild) - von einer Gruppe Frauen aus der Oberschicht,  die sich in einem vornehmen Club traf und zum Islam zurückgefunden  hat.
Für ihr Projekt einer Missionierung der ägyptischen Oberschicht  schien den Damen der junge Amr Khalid bestens geeignet. Und tatsächlich setzten  sie auf die richtige Karte: Amr Khalid gelang es schon bald, das Umfeld des  noblen Clubs zu verlassen und mit seiner neuen Botschaft breite  Bevölkerungsschichten zu erreichen. Er begann in Moscheen zu predigen, benutzte  aber zur Verbreitung seiner Botschaft von Anfang an die Medien. In kurzer Zeit  eroberte er die bedeutendsten privaten TV-Sender. Heute erreicht Khalid ein  Millionenpublikum: In Ägypten, in vielen arabischen Ländern, aber auch in  Europa, wo er unter den Muslimen und Musliminnen der zweiten Generation viel  Zuspruch findet. In Frankreich, so Haenni, tritt Amr Khalid regelmässig vor  grossem Publikum auf und konkurrenziert auf seine Art den anderen  „Starprediger“, den Genfer Tarik Ramadan.
Die Botschaft liegt nicht  mehr im Inhalt
Doch was predigt denn der smarte und islamische  Unternehmers Amr Khalid? „Die Botschaft liegt nicht in erster Linie im Inhalt,  sondern im Stil, in der Art und Weise der Vermittlung“, sagt Haenni. Wenn man  seine Predigten genauer analysiere, so stelle man fest, dass es sich  grösstenteils um durchaus klassische Inhalte handle. Khalid ermahne die Frauen,  sich zu verschleiern, fordere mit Nachdruck dazu auf, die täglichen Gebete zu  verrichten und auf Alkohol zu verzichten. In Sachen Sexualmoral sei Khalid sogar  sehr konservativ: Sex vor der Ehe und erst recht Homosexualität verurteile er  kategorisch. Sehr innovativ sei er hingegen in seinem Auftreten, seinem Stil.  Khalid verwende in seinem Predigten und Talkshows den ägyptischen Dialekt und  nicht, wie sonst üblich, das klassische Arabisch, sagt Haenni. Er verzichte auf  den ernsten, würdigen Tonfall der Al-Azhar-Gelehrten und schlüpfe statt dessen  in die Rolle des älteren Bruders, des freundlichen Beraters. 
Diese neue  Rolle unterstreicht Khalid auch mit seinem Äusseren: Statt der klassischen  Dschellaba trägt der Jungprediger Anzug und Krawatte, und sein Kinn ist  sorgfältig rasiert. Ebenso wichtig ist das Element der Talkshows, das Khalid in  seinen TV-Sendungen eingeführt hat, sowie Bekenntnisse „aus der Tiefe des  Herzens“, die an amerikanische TV-Predigten erinnern. Als letztes ortet Haenni  eine Abkehr von der Androhung von Strafe, die in klassischen Predigten eine  wichtige Rolle spielten, hin zu freundlichen Ermahnungen. „Es ist eigentlich  ganz einfach, ein gläubiger Muslim zu sein“, laute die Botschaft. Ein moderner  Muslim müsse keineswegs auf die Freuden des Lebens verzichten.
Am Nerv  der Zeit
Amr Khalid, davon ist Patrick Haenni überzeugt, ist ganz und  gar ein Mann seiner Zeit. „Khalid belegt eindrücklich, dass die  gesellschaftliche Modernisierung in Ägypten in den religiösen Bereich  vorgedrungen ist“, sagt der junge Forscher, der fast genau gleich ist alt wie  das Objekt seiner Studien und seit fünf Jahren am „Centre d’études et de  documentation économiques, juridiques et sociales (CED) in Kairo arbeitet. Er  habe, wohl ohne dies zu beabsichtigen, eine Art faktischer Aussöhnung von Islam  und moderner Lebensführung zustande gebracht. Seine Betonung der Subjektivität,  der Selbstentfaltung, die fast protestantisch zu nennende Ethik: All dies seien  unübersehbar moderne Elemente.
Allerdings sei Amr Khalid genau genommen  „ein Modernist ohne eigentliches Modernisierungsprojekt“, meint Haenni. Mit den  Versuchen, die islamische Glaubenslehre auf der Basis aufklärerischen Denkens zu  reformieren, wie sie etwa von dem in Paris lehrenden Philosophen Mohamed Arkoun  unternommen würden, habe Khalid nichts am Hut. All diese Modernisierungsprojekte  seien aber bis heute praktisch auf äusserst kleine Zirkel von Intellektuellen  beschränkt geblieben.
Islamisches Gedankengut mit Zen und  Yoga
Doch erschöpft sich dieser "neue Islam" nicht weitgehend in  Äusserlichkeiten? Und ist dieser dynamische Jungprediger nicht in erster Linie  ein erfolgreicher Unternehmer, der eine Marktlücke entdeckt hat und im  Wesentlichen die Methoden der amerikanischen TV-Prediger imitiert? Patrick  Haenni widerspricht heftig. Es treffe wohl zu, dass Khaled ein gewiefter  Geschäftsmann sei, der sich gut vermarkte. Doch daraus abzuleiten, er  missbrauche die Religion für kommerzielle Zwecke, wäre zu kurz gegriffen. Denn  die neuen Prediger würden sich allesamt als gläubige Muslime verstehen und ohne  Zweifel den Nerv der Zeit treffen.
Auch der Vorwurf der Übernahme von  Methoden à la Billy Graham greife zu kurz. Es sei zwar schon möglich, dass sich  Khalid von den amerikanischen Fernseh-Prediger habe inspirieren lassen.  Gleichzeitig fänden aber auch asiatische Traditionen wie Zen oder Yoga zunehmend  Eingang in islamisches Gedankengut. „Wir sind Zeugen eines zunehmend  globalisierten Islam, der sich fremden kulturellen Einflüssen öffnet“, sagt  Haenni. Besonders augenfällig sei die Vermischung islamischer Tradition mit der  Popkultur und den Mondetrends des Westens im Naschid, dem religiösen Gesang, der  immer mehr von nichtarabischen Rhythmen geprägt werde.
Lange sei der  Islam immer als singuläre Erscheinung betrachtet worden. Von dem gelte es  endlich abzurücken. Vor allem plädiert Haenni dafür, statt dem islamischen Dogma  die Lebenspraxis der heutigen Muslime genauer anzuschauen. Tue man dies, so  könne man in vielen Bereichen „unerwartete Annäherungen“ und eine gegenseitige  Befruchtung feststellen.
Die Botschaft kommt an
Jenseits  solcher Überlegungen gilt festzuhalten: Die neuen Prediger kommen an, finden ein  grosses Publikum, das, so scheint es, auf diese neuen Formen von Religiosität  geradezu gewartet haben. Vor allem Frauen, so berichtet Haenni, reagierten meist  sehr positiv auf Amr Khalid und die andern „neuen“ Prediger. Das liege ganz  stark daran, dass Khalid als erster Prediger die Frauen direkt angesprochen  habe, und zwar als gleichwertige „Schwestern“. 
Der neuen Generation von  Predigern scheint es gelungen zu sein, einen beachtlichen Teil der „Jeunesse  dorée“ und der jüngeren Generation aus der Mittelschicht anzusprechen und sie in  einem gewissen Sinn zum Islam zurückzuführen. Unterschichts-Jugendliche  reagierten hingegen ambivalent auf den Fernsehprediger. Khalid werde klar als  Angehöriger einer privilegierten Schicht identifiziert, berichtet Haenni, und  gewisse seiner Äusserungen kämen schlecht an. Ein grosser Teil dieser  unterprivilegierten Jugendlichen wünschten sich mehr Militanz und stiessen sich  an seinem mehrheitlich apolitischen Diskurs. Anderseits komme der Stil der  jungen Prediger auch bei diesen Bevölkerungsschichten gut  an.
Zukünftiges Modell für Islamisten?
Geteilt ist nach den  Beobachtungen von Haenni auch die Reaktion der Vertreter des orthodoxen Islam  und der Islamisten. Zwar wetterten viele gegen die neuen Prediger. Doch  zumindest bei einem Teil der Gelehrten der al-Azhar stosse Khalid auch auf  Zustimmung, weil er letztlich in ihrem Sinn und Geist handle. Die Islamisten  ihrerseits könnten den Aktivitäten des juvenilen Verkünders trotz fehlender  Militanz etwas abgewinnen, weil es Khalid gelungen sei, die verwestlichte  Oberschicht zu re-islamisieren. Unter den Muslimbrüdern sei man auf jeden Fall  zum Schluss gekommen, dass Amr Khalid das „Modell der Zukunft“ sei. In Zukunft  würden sie versuchen, lokale Prediger einzusetzen, die den Stil des  Fernsehpredigers reproduzierten.
Im Rückblick, sagt Haenni, könne man die  Entstehung dieses neuen Phänomens wie folgt erklären: Zum einen habe der  Islamismus als politische Utopie an Zugkraft verloren. Zum andern habe sich in  weiten Teilen der Bevölkerung ein Misstrauen gegenüber den Gelehrten der  al-Azhar-Universität herausgebildet, denen man vorwerfe, zu altmodisch und zu  stark von der Regierung abhängig zu sein. Den Versuch, zwischen zwei als nicht  praktikabel erscheinenden Modellen einen neuen Weg zu suchen, werte er als  Soziologe durchaus positiv, sagt Haenni. Es sei diesen Neo- oder Postislamisten  ohne Theorie und ohne grosse Ideologie gelungen, zumindest im alltäglichen Leben  die grosse Herausforderung zu meistern, vor der die islamische Welt stehe:  Nämlich die Aussöhnung zwischen dem islamischen Erbe, der Orientierung an  islamischen Prinzipien mit dem modernen Leben.
Prognose  verfrüht
Daraus aber allzu optimistische Annahmen bezüglich der  Weiterentwicklung der islamischen Welt abzuleiten, wäre verfrüht, warnt Haenni.  Denn zum einen sei im Moment vollkommen offen, in welchem Mass sich dieser  „dritte Weg“ durchsetzen könne. Zum andern praktiziere auch der radikale  Islamismus und insbesondere al-Kaida genau genommen eine Verschmelzung von  westlichem und islamischem Gedankengut, wenn auch mit vollkommen anderem  Resultat. Und diese radikale Bewegung habe ihre Anziehungskraft bis heute  keineswegs verloren.
                17. Februar 2004